SWR2 Lied zum Sonntag

SWR2 Lied zum Sonntag

Instrumentalfassung von Mitsing-CD „Aus meines Herzens Grunde - Die schönsten alten Kirchenlieder", track 66, Pianist: Götz Payer, LC Nr. 3989, 0:15 (0:06 freistehend, dann darüber gesprochen)

Jesu, geh voran auf der Lebensbahn - Generationen von Konfirmanden und Hochzeitspaaren wurden mit dieser Melodie auf ihren weiteren Lebensweg geschickt. Das fromme Lied, das gleichzeitig wie ein Plädoyer für ein wohlgeordnetes bürgerliches Leben wirkt, scheint wie gemacht für solche Anlässe

Strophe 1: Chor-Aufnahme SWR-Archivnummer 1239423 001, 0:27

Jesu geh voran auf der Lebensbahn! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen; führ' uns an der Hand bis ins Vaterland.

Mir selbst ist das Lied lange eher fremd geblieben. Vor allem die zweite Strophe, die Selbstdisziplin und Leidensfähigkeit besingt.

Strophe 2: (Sologesang CD 3 track 7 aus CD „Aus meines Herzens Grunde - Die schönsten alten Kirchenlieder", Interpreten Ruth Sandhoff/Götz Payer, LC  Nr. 3989, 0:26

Soll's uns hart ergehen, lass uns feste stehn und auch in den schwersten Tagen niemals über Lasten klagen; denn durch Trübsal hier geht der Weg zu dir.
Beklage dich niemals, egal was geschieht, denn der Lohn folgt im Himmel - so verstanden, finde ich, ist das eine problematische Maxime. Sie kann nicht nur persönlich schlimme Folgen haben, sondern ist auch politisch lange Zeit missbraucht worden.
Meine Sicht auf das Lied hat sich allerdings verändert, als ich mehr über seinen Verfasser erfahren habe. Als der junge Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf 1721 diese Zeilen dichtet, hat er anderes im Sinn: Er ist weit entfernt davon, junge Menschen auf ein der weltlichen und geistlichen Obrigkeit genehmes Leben einzuschwören. Im Gegenteil: Der gerade volljährig gewordene Graf, ausgestattet mit einer brillanten Auffassungsgabe und einem rastlosen Geist, ist getrieben von einer glühenden Jesus-Frömmigkeit. Und er steht sowohl der konfessionell gespaltenen Amtskirche seiner Zeit als auch dem Staat kritisch gegenüber. Nur unwillig hat er eine erste Stelle in der oft korrupten Staatsverwaltung angenommen, die gesellschaftlichen Vergnügungen des Adels umgeht er. Er fürchtet, all das könnte seine Hingabe an Jesus gefährden.
Auch Zinzendorfs Poesie sperrt sich in ihrer ursprünglichen Form gegen den bürgerlichen Hausgebrauch. Die heute als vierte Strophe gebrauchten Verse stammen aus Zinzendorfs Seelenbräutigam-Lied. Und sie enthalten im Original Bilder, die für spätere Gesangbücher ungeeignet schienen:

drunterliegend: Sinfonischer Orgelchoral (Interpret Johannes Michael), SWR-Archiv Nr. 3368606 006, 0:15

Ordne meinen Gang, Liebster, lebenslang: Führst du mich durch trockne Wüsten; schenke mir aus deinen Brüsten. Tu mir nach dem Lauf eine Türe auf.

Aus Zinzendorfs „Wüsten" werden später „rauhe Wege", auf die sich ganz unverfänglich die „nöt'ge Pflege" reimt. Zinzendorf jedoch bleibt ein unkonventioneller Mann, sein Leben lang. Er überwindet Konfessionsgrenzen und setzt mit seiner Herrnhuter Brüdergemeine Maßstäbe für ein gemeinschaftliches Leben und einen erneuerten Gottesdienst. Er bereist für seine Missionsbemühungen die halbe Welt und setzt sich für die Rechte der in der Karibik versklavten Afrikaner ein.
Dass seine Lieder eine biedere Bearbeitung erfahren haben, bescherte ihnen eine weite Verbreitung. Aber mir hilft es, wenn ich den unangepassten, die Grenzen seiner Zeit sprengenden Geist Zinzendorfs durch die braven Liedstrophen hindurchhöre.

Sinfonischer Orgelchoral (Interpret Johannes Michael), SWR-Archiv Nr. 3368606 006, 0:20 (zu Beginn drunterliegend, am Ende 0:07 freistehend)

Dann merke ich, dass es diesen Zeilen nicht zuerst darum geht, einen ordentlichen Lebenswandel fördern. Es geht um mehr: Um eine radikale Orientierung an Jesus. Die kann es auch nötig machen, unangepasst, ja unordentlich zu leben. Zu protestieren, wenn etwas dem Vorbild Jesu nicht entspricht. Und manchmal tatsächlich auch Lasten zu ertragen. In diesem Sinne kann ich dieses alte Lied auch wieder ganz neu singen: Jesu, geh voran auf der Lebensbahn.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16204
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