SWR2 Wort zum Tag

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Manchmal staune ich, wenn ich einen Menschen näher kennen lerne. Ich hatte ein ganz anderes Bild von ihm. Staunend sehe ich ihn nun anders, mehr, wie er wirklich ist. Wer staunen kann, lernt sehen. Das Staunen führt weg von dem, was man schon zu wissen meint. Es hilft, dem, was man erlebt, unvoreingenommener zu begegnen. Und es verhindert Vorurteile gegenüber Menschen. Wer staunt, will wissen, was wirklich ist und wer Menschen wirklich sind. Staunen ist so etwas wie ein Schlüssel zur Wirklichkeit.

Staunen ist auch ein erster Schritt zur Anbetung, sagt ein französischer Arbeiterpriester. Und in der Tat: In den biblischen Psalmen stößt man immer wieder auf Äußerungen des Staunens und der Verwunderung, die dann in das Lob Gottes und in Dank münden. Da heißt es z.B. in einem Psalm: Wie wunderbar sind deine Werke! Alles Land bete dich an und lobsinge dir! Staunend zählt ein anderer Beter die Wunder der Schöpfung auf und stellt dann staunend fest: Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Und ein weiterer Beter denkt staunend an sich selbst, an das Leben, das ihm geschenkt wurde, und sagt: Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin. Was die Beter staunend wahrnehmen, erkennen sie als Schöpfung. In dem, was sie zum Staunen bringt, entdecken sie den Schöpfer und loben ihn.

Woher kommt das? Wir können über die Schönheit der Natur staunen, über die Unendlichkeit des Weltraumes, über die geheimnisvolle Zusammensetzung der Materie. Aber erkennen wir in dem, worüber wir staunen, auch den Schöpfer? Selbstverständlich ist das nicht. Die Beter der Psalmen lebten in einer anderen Welt als wir. Aber es gibt noch einen anderen, einen entscheidenden Grund für ihre Sicht der Wirklichkeit. Wenn sie staunend über die Schöpfung sprechen und den Schöpfer loben, sprechen sie fast ohne Übergang auch von Erfahrungen mit Gott in der Geschichte Israels. z.B. von der wunderbaren Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, in der Juden bis heute das Zeichen der Zuwendung Gottes zu seinem Volk sehen. Oder sie bekennen, dass sie sich persönlich von Gott umgeben und sich, wo sie auch sein mögen, von ihm gehalten wissen. Die Geschichte mit Gott und Erfahrungen mit ihm ist der Schlüssel zu ihrer Sicht der Wirklichkeit. - Es ist bei Christen nicht anders: Die Geschichte Jesu Christi, der Glaube und das Staunen darüber, dass ich um seinetwillen geliebt bin, helfen mir zu glauben, dass Gott in der Welt wirkt, und lehren mich, die Welt mit ihren Wundern als Schöpfung und mich selbst als Gottes geliebtes Geschöpf zu sehen - und Gott dankbar zu loben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15895
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