Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ich weiß noch, wie wir als Heranwachsende manchmal heimlich die Augen verdreht haben, wenn die Großeltern wieder vom Krieg zu erzählen anfingen.
Oder wenn mein Vater mit uns schimpfte, weil wir die Butter zu dick auftrugen.
Oder meine Mutter eher schimmeliges Brot gegessen hätte, als es wegzuwerfen.
Das hat sich zwar mit den Jahren ein bisschen gelockert; aber diese Dinge sitzen immer noch tief - nicht nur in den Köpfen unserer Eltern. Auch in meiner Generation, obwohl ich selber nie den Krieg erlebt habe. Und genau deswegen höre ich heute sehr aufmerksam zu, wenn jemand von damals erzählt. Es ist vielleicht die letzte Chance zu verstehen, warum die vor mir so ticken. Und wie mich das geprägt hat.
Ich würde meiner Mutter beispielsweise niemals Margarine auftischen, weil ich sie als Kind ranzige Margarine essen musste. Butter hingegen ist für sie immer noch die reinste Köstlichkeit.
Dazu fällt mir auch sofort eine Geschichte aus der Kindheit meiner Mutter ein: Da sehe ich sie als junges Mädchen vor mir, genau so wie auf ihren Kinderbildern. Sie hatte zwei lange, braune Zöpfe. Die flogen hinter ihr her, wenn sie zum Bauernhof lief, um Schmuck gegen ein Stück Butter und ein paar Eier einzutauschen. Einmal sagte der Bauersohn, er würde ihr alles geben, wenn sie ein Stück mit ihm in den Wald ginge. Er hatte natürlich nichts Gutes im Sinn. Meine Mutter trat ihm ordentlich ans Schienbein und entkam ihm mit ihren frisch erworbenen Schätzen. Gott sei Dank.
Diese Geschichten prägen uns. Auch diejenigen, über die geschwiegen wurde. Mein Großvater kam verwundet nach Hause; man musste ihm einen Großteil seines Magens entfernen. Wir Kinder haben nie erfahren, wie sich das genau zugetragen hat. Aber das ständige Magenleiden hatte sich tief in seine Mundfalten gegraben. Und wir machten uns instinktiv aus dem Staub, wenn bei ihm auch nur der geringste Anflug von Gereiztheit zu bemerken war.
Noch leben Menschen, die all das mitgemacht haben. Noch kann man sie fragen.
Ich glaube, wir können da gar nicht aufmerksam genug zuhören - auch im eigenen Interesse.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=12188
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