Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Schon länger hatte die Ente so ein Gefühl... -  beginnt das Bilderbuch von Wolf Erlbruch. Schon länger hatte die Ente so ein Gefühl... Sie sieht sich um. Und da steht der Tod vor ihr. Man erkennt ihn gleich an seinem Skelett. Nur - dieser Tod sieht direkt liebenswert aus, in seinem karierten Kittelchen und dem freundlichen Lächeln im Gesicht. Er ist kaum größer als ein Kind und schaut der Ente ins Gesicht.
„Wer bist du? Und was schleichst du hinter mir her?"
„Schön, dass du mich endlich bemerkst", sagt der Tod. "Ich bin der Tod."
Die Ente erschrickt.
„Und jetzt kommst du mich holen?"
„Ich bin schon in deiner Nähe solange du lebst."

Aber der Tod hat es nicht eilig. Und das beruhigt die Ente. Er beantwortet höflich ihre Fragen. Und bald muss sie sich eingestehen, dass sie den Tod nett findet. Sogar ziemlich nett, wenn man davon absieht, wer er ist. Und so kommen sie sich näher und verbringen die Tage und Wochen miteinander. Der Tod wird zum Freund und Begleiter.
Kann der Tod wirklich ein Freund werden? Ich weiß nicht. Aber vielleicht doch so, dass man ein bisschen die Angst verliert, wenn man sich mit ihm ein wenig vertraut macht.
Einmal klettern die Ente und der Tod auf einen Baum.
Tief unten ist der Teich zu sehen. Wie er so daliegt, so still - und so einsam.
„So ist es also, wenn ich tot bin", denkt die Ente. „Der Teich - allein. Ganz ohne mich."
Der Tod kann manchmal Gedanken lesen.
„Wenn du tot bist, ist auch der Teich weg - zumindest für dich."
„Das ist tröstlich, dann muss ich ihm nicht nachtrauern, wenn..."
„... wenn du gestorben bist",
sagt der Tod. Über das Sterben zu reden fällt ihm leicht.
Eines Morgens, nachdem es immer stiller geworden ist um die beiden, geschieht was geschehen muss: die Ente atmet nicht mehr.
Der Tod streicht ihr die Federn glatt und trägt sie zum großen Fluss.
Dort legt er sie behutsam auf´s Wasser und gibt ihr einen vorsichtigen Schubs. Lange schaut er ihr nach. Als er sie aus den Augen verliert, ist der Tod fast ein wenig betrübt. Aber so ist das Leben.
Wolf Erlbruch: Ente, Tod und Tulpe

 

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