Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Eine Szene beim Bergwandern: Beim Aufstieg überholen wir einen Vater mit seinem wirklich noch sehr kleinen Sohn. Sie sind schon ziemlich weit oben, und ich staune, wie klaglos der Kleine läuft. Aber dann bleibt er auf einmal stehen, und ist durch nichts dazu zu bewegen, weiter zu gehen. Guck mal, Papa, eine Ameise! Der Vater versucht zu überzeugen: Ach, Ameisen gibt's doch überall! Jetzt schau doch mal, wie weit man hier sehen kann, das gibt's nur hier! Der Kleine bleibt lieber beim Kleinen. Er interessiert sich nicht für den einzigartigen Fernblick. Er findet die Ameise, die über einen Stein krabbelt, viel spannender.

Ja, die Perspektive. Für den Vierjährigen ist die Ameise in jeder Hinsicht näher als für seinen baumlangen Vater. Und der hat auch schon gelernt, dass auch mächtige Berge aus der Entfernung klein aussehen und trotzdem groß sind. Der Kleine weiß das noch nicht und traut dem, was er sieht: kleine Berge, die nicht höher scheinen als er selbst. Und dann noch so weit weg, dass man sie nicht anfassen kann. Da bleibt er doch lieber bei seiner Ameise, da kann man wenigstens zuschauen, wie sie sich bewegt.

Die Perspektive. Sie ist vielleicht das Spannendste am Leben. Denn sie macht die Wirklichkeit erst zu dem, was ich als wirklich empfinde. Ich zum Beispiel schaue aus der Perspektive des Glaubens auf die Welt. Ich glaube, dass alles, was ist, einen Grund hat, und diesen Grund nenne ich Gott. Die Berge und die Ameise und der kleine Junge und sein Vater und das Heidekraut auf dem Weg und das Picknick im Rucksack. Das alles steht für mich in Verbindung zueinander, weil alles aus derselben Hand kommt und in dieselbe Hand zurückkehrt. Wenn man die Welt aus anderem Blickwinkel betrachtet, zeigt sie sich anders, und ich kann nicht sagen, das eine sei richtig und das andere falsch. Oder der Berg sei schöner als die Ameise. Die Perspektive lenkt nur meinen Blick, mal auf das eine, mal auf das andere. 

Ich weiß nicht, ob Vater und Sohn es noch bis oben geschafft haben, wir haben sie überholt und sind weiter gegangen, amüsiert über diese niedliche Szene. Schließlich stand ich auf dem Gipfel, ein bisschen außer Atem, aber stolz auf meine Leistung und beeindruckt von einer grandiosen Landschaft. Dann hab ich mich hingesetzt und gepicknickt - und Ameisen beobachtet.

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