SWR2 Wort zum Tag

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Wie kann es sein, dass Menschen sich mit so einer Wand arrangieren? Dass sie nicht berührt, was hinter der Wand geschieht? Mit den Menschen dahinter. Diese Frage war auf einmal ganz präsent. Unüberhörbar. Die gotische Klosterkirche in Breitenau - südlich von Kassel - hat sie mir gestellt. Bei einem Besuch.
Wie kann es sein, dass Menschen mit so einer Wand so „normal" leben konnten? Eine Normalität, die uns heute abwegig und abgründig vorkommt. Diese Frage lässt mich seither nicht mehr los. Weil dahinter die Frage steckt: Lebe ich vielleicht auch manchmal so? So abgründig „normal"?
Von außen sieht man die Wand nicht. Die Klosterkirche wirkt groß und weit. Aber innen ist das Kirchenschiff viel kleiner als erwartet. In der Mitte ist es zugemauert. Diesseits der Wand hat die Gemeinde Gottesdienst gefeiert. Sich Gott zugewandt. Gesungen, gebetet. Eigene Freude und eigenes Leiden vor Gott gebracht. Mit dem Blick nach vorn zu Altar und Orgel und zur Mauer.
Sie hat den Menschen verborgen, dass dahinter andere Menschen gelitten haben: Über 100 Jahre lang wurden dort im staatlichen Teil des Gebäudes immer wieder Menschen eingesperrt: Zuerst, 1870, französische Kriegsgefangene, danach Obdachlose, die „gebessert" werden sollten. Ab 1933 haben die Nazis zuerst politische Gefangene in der Kirche interniert, später Zwangsarbeiter. Und nach 1950 bis in die 70er Jahre hinein war hinter der Mauer ein Heim des Landes für so genannte „schwer erziehbare Mädchen".
Erst seither muss niemand mehr leiden hinter der Breitenauer Wand. Und in einer Gedenkstätte wird an die vielen Leidenden erinnert.
Mich beschäftigt seit dem Besuch in Breitenau die Frage:
Wo trage ich solche Mauern in mir, so dass Menschen und ihr Leid dahinter unsichtbar werden? Denn geschehen kann so etwas wie in Breitenau ja, weil die eigentliche Wand nicht aus Stein ist. Sondern im Kopf. Und im Herzen. Wenn man einen anderen oder ganze Gruppen nicht mehr sieht und ihnen Mitgefühl und Solidarität entzieht. Wenn ich „normal" finde, was anderen passiert. So schirmt man sich ab. Ist sich diesseits der Wand selbst genug.
„Sich nicht selbst genug zu sein." Das ist wohl ein Schlüssel gegen solche Mauern: Sondern zB. zu sehen: Wo und wie leben Flüchtlinge bei uns. Ist das „normal"? Zu sehen, wie wir Flüchtlinge von Europa fern halten, damit man von ihrem Leid unberührt bleibt. Manchmal ist es auch Ohnmacht, dass Mauern wie die in Breitenau so fest sind. Aber sie können nicht stehen bleiben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11596
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