SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Als ich dreizehn Jahre alt war, fand ich in meinem Zeugnis unter der Rubrik: „Bemerkungen" diese: „Marita träumt im Unterricht. Sie muss sich mehr beteiligen." Ich muss damals wohl überdurchschnittlich viel aus dem Fenster geschaut haben, ins Himmelsgrau über dem Pausenhof und wenn mich der Lehrer aufrief, nicht bei der Sache gewesen sein. Statt aufzupassen, hing ich meinen Gedanken nach. Meinen Tagträumen, meinen Lebensträumen. Ich träumte von einem Jungen, den ich jeden Morgen auf der Zugfahrt bewunderte. Ich träumte von den Sommerferien, die so wunderschön gewesen waren. Ich träumte davon, was ich eines Tages werden könnte. Schriftstellerin, schwebt mir vor. Oder ein weiblicher Sigmund Freud. Oder einfach ausreißen und nach Paris gehen. Und anschließend ins Kloster. Oder umgekehrt. Ich träumte wirklich, und war doch hellwach.
Man muss an solchen Träumen nicht lange herumdeuten. Im Gegensatz zu dem, was einem nachts träumt, ist so ein Traum mit offenen Augen sofort verständlich. So ein Lebenstraum - eine Tagphantasie, entwirft das Leben recht kühn und mit einem ordentlichen Schuss Größenwahn. Er beginnt mit einem Wunsch, mit einer Sehnsucht. Aber er will sich damit nicht begnügen, nicht immer nur Traum sein. Er zielt auf Erfüllung, er will wirklich werden. Wie der Traum von Freiheit, von Glück. Wie die Lebensträume der Deutschen, die, laut Umfrage von Eigenheimen, Kreuzfahrten und dem Haus im Grünen träumen, am meisten aber davon, Ruhe genießen zu können.
 Lebensträume müssen nicht ein Leben lang dieselben bleiben. Sie verändern sich mit dem Älterwerden. Aus manchen Lebensträumen erwacht man und ist merkwürdig berührt davon, dass man diesen Traum wirklich einmal geträumt hat, so fremd ist er einem geworden. Oder aber man kann Lebensträume zu Lebzeiten erfüllt sehen, und neue können sich daran anschließen.
Im Unterschied zu dem, was wir nachts träumen, können wir Lebensträume mit anderen teilen. Auch den Traum von Erlösung, den Traum vom Paradies „Wir werden sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens sein."", heißt es in einem Psalm. (Ps 126,1) Wir werden uns dann in den Arm zwicken, gegenseitig, und sagen: Ich glaub ich träume! Das ist so schön! Ist das wirklich wahr? Wir werden sein wie die Träumenden - das ist als Verheißung gemeint, nicht als etwas, was abgeschafft gehört.

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