SWR2 Wort zum Tag

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„Weiter sehen als wir sind" - ein Wort des holländischen Theologen und Dichters Huub Oosterhuis[1], das mich durch diese Woche geleitet hat. Warum hat mich dieses Wort in seinen Bann gezogen? Ich glaube deshalb, weil es von einer unermesslichen Weite ist. Stellen sich im Licht dieses scheinbar schlichten Gedankens nicht sehr viele Fragen an mein Leben und an meinen Glauben? „Weiter sehen als wir sind" - das ist ein Wort der Zuversicht. Es ist immer Grund zur Hoffnung. Es gibt immer ein Mehr, das weit über das vorläufige Jetzt hinausreicht. Aber der Weg nach vorne bedeutet auch Abschied von gewohnten Sehweisen, bedeutet Unsicherheit und oftmals Angst. Loslassen kann schwer sein. „Weiter sehen als wir sind." Es geht um „Visionen". Aber was ist das? Geht es dabei um Großes, um den Mut zu weit reichenden Veränderungen? Ja, gewiss. Aber weiter zu sehen kann auch bedeuten, den Blick in die Nähe zu wagen. Wahrnehmen, „dass hundert Blumen blühen dürfen", wie Oosterhuis sagt; Klee und Sauerampfer, sogar Disteln auf Schutt und Müll. Ist das nicht ein großes Wunder? „Weiter sehen als wir sind." Es geht auch um mich selbst. Wir leben „von Name zu Name", sagt Huub Oosterhuis. Ich bin ein Leben lang unterwegs auf mich selbst hin, auf die Bestimmung, auf den Sinn meines Lebens hin. Ich bin mir vertraut und fremd. Und ich kann die Frage, warum ich lebe, nicht theoretisch beantworten, sondern nur „mit Herz und Hand" und „als Mensch dazu", so Oosterhuis. Und er ermutigt mich: „Sei Frage [und] Antwort - [sei] der Mensch, der einzig du sein kannst." Und es geht schließlich um den Glauben. Es geht um Gott. Um Gott in der Tiefe des eigenen Selbst. Um Gott in der Fülle meines Glücks, auch in der quälenden Angst, im Tod. Ist Gott für mich das Wort, das tröstet und befreit, wie Huub Oosterhuis auch einmal sagt? Das Wort, das mich über mich selbst hinaus führt - in das Offene vor mir, aber auch in die unbekannte Tiefe meiner selbst? Ist er der Gott meiner Sehnsucht? Ist er die befreiende Antwort, die meinen Fragen ihre lähmende Ungewissheit nimmt? Ist er die Frage, die stets größer ist als alle Antworten? Oder ist Gott zu einer selbstverständlichen Vokabel geworden, die nicht mehr beunruhigt und die nichts mehr bewegt? „Weiter sehen als wir sind."  Lassen wir uns in die Weite führen? In die Weite eines freien Lebens? In die Weite eines freien Glaubens? Ich habe Bilder von geglücktem Leben; und ich habe Bilder von Gott. Kann ich auch über diese Bilder von Gott und der Welt und dem Leben hinaus sehen? Kann ich diese Bilder hinter mir lassen, auch wenn sich dann vielleicht mein Sehen- und Erkennen-Wollen in der Ferne, im Zweifel, im Dunkel verlieren? Aber könnte dann nicht doch etwas in mir ahnen: Du bist da? 


[1]Huub Oosterhuis, Weiter sehen als wir sind. Meditationstexte - Gebete - Lieder, Freiburg-Basel-Wien 1973.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10889
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