SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Weiter sehen als wir sind." Dieses Wort des holländischen Theologen und Dichters Huub Oosterhuis leitet mich in dieser Woche.[1] Es lenkt den Blick über das Heute hinaus auf das Morgen. Es wirft aber auch die Frage auf: Wie gehe ich mit dem um, was heute ist? Gewiss, Leben bedeutet, dass wir immer über das Heute hinaus auf das Morgen hin unterwegs sind, dass wir uns auf das Neue, Offene hin entwerfen. Das Jetzt lässt sich nicht festhalten, es vergeht immer. Und doch zeigt sich im Jetzt, was aus mir geworden ist, wer ich bin. Wie ich erzogen worden und aufgewachsen bin, was ich gelernt habe und wem ich begegnet bin, was mich glücklich gemacht und was mich belastet hat - all das gehört zu mir und macht mich zu dem, der ich bin. Das ist ein Gesetz meines Lebens und ein Gesetz aller Geschichte. Es verlangt meinen Respekt, ich stehe dazu. 
Das Bild eines Baumes fällt mir ein. Jedes Jahr legt einen neuen Ring um seinen Stamm. Und jeder Jahresring zeigt, wie der Baum gewachsen ist, wie er sich entwickelt und entfaltet hat. Die älteren Jahresringe sind nicht weniger wichtig als die jüngsten. Alle zusammen machen den Baum zu dem, der er jetzt ist; keiner darf fehlen. Allerdings hat mit jedem Jahresring auch einmal Neues begonnen, er konnte sich nur im Wachsen bilden. Wo dem neuen Wachsen die Nahrung fehlt, wo Raum und Licht verwehrt werden, verkümmert das Leben oft oder stirbt sogar ab. Was geworden ist, kann nur bestehen, wenn es über sich hinauswächst. Aber nicht alles, was in meinem Leben geschehen ist, trägt immer zur Lebendigkeit bei. Es gibt darin auch vertane Chancen, verweigerte Liebe und Schuld. Auch Tragik und Scheitern können zum Leben gehören. Und auch dies macht mich zu dem, der ich bin. Auch dazu muss ich stehen, selbst wenn es schwer fällt. Huub Oosterhuis' Wort „Weiter sehen als wir sind" heißt dann nichts anderes als: weiter gehen. Nicht verdrängen und nicht verleugnen, auch wenn das vielleicht am bequemsten scheint; auch nicht resignieren und verzweifeln - sondern: weiter gehen. Dann kann ich auch daran wachsen. Ich werde frei und offen für die Zukunft. Das macht Vergangenes nicht ungeschehen, aber es nimmt ihm die lähmende Last. 
Bäume wachsen nicht in den Himmel. Auch wir wachsen nicht in den Himmel. Wir sind und bleiben Menschen, endliche Menschen - immer neu dem Jetzt verhaftet, mit seinen Zwiespältigkeiten, mit seinem Glück und seinen unerfüllten Sehnsüchten. Aber ich vertraue darauf, dass der Himmel immer in uns offen ist, dass Gott ein Leben lang in uns lebt und mit uns lebt und dass wir an den letzten Grenzen unserer Endlichkeit einmal unendlich viel „weiter sehen als wir sind".


[1]Huub Oosterhuis, Weiter sehen als wir sind. Meditationstexte - Gebete - Lieder, Freiburg-Basel-Wien 1973.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10886
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