SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„O komm, du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein ...". So dichtet Philipp Spitta in seinem Pfingstchoral. Ich singe ihn von Herzen gerne mit. Meistens. Manchmal allerdings stolpere ich über diesen innigen Wunsch nach dem Geist der Wahrheit und denke: Will ich das überhaupt?
Wahrheitsansprüche kleiden sich gerne in das Gewand des Absoluten. Dann ist für individuelle Bewertungen oder persönliches Erkennen kein Platz: Entweder etwas ist wahr oder es ist nicht wahr, entweder du glaubst es oder du glaubst es nicht. Wer sagt, er verkündige die Wahrheit, signalisiert damit manchmal: Widerspruch zwecklos, Diskussionen nicht erwünscht. Davor fürchte ich mich. Vor absoluten Wahrheiten und ihren absoluten Vertretern. Vor Wahrheiten, denen man das Ringen darum nicht mehr abspürt.
Wenn ich es mit solchen Positionen zu tun bekomme, stelle ich fest: Wo „die Wahrheit" behauptet wird, wird nicht etwas beschrieben, sondern vorgeschrieben, wird eine Sichtweise festgelegt, nicht eröffnet. Mich beschäftigt die zunehmende Neigung zu fundamentalistischen Positionen, egal in welcher Religion. Dort hat der Anspruch, die Wahrheit zu kennen, zur Folge, dass Zweifel und Fragen nicht erlaubt, sondern verboten sind.
Das ist für manche Menschen durchaus attraktiv in unseren komplexen Zeiten, in denen man oft nicht mehr weiß, was man noch für wahr halten soll, und welche Entscheidungen einem überhaupt noch möglich sind. Denn je mehr wir wissen, desto komplizierter wird es, zu persönlichen, verantwortlichen Entscheidungen zu gelangen, weil uns zugleich dann immer auch bewusst ist, worauf wir verzichtet oder wogegen wir uns entschieden haben.
Im Johannesevangelium sagt Jesus einen für mich wichtigen Gedanken über den Geist der Wahrheit: Dass dieser nicht aus sich selbst reden wird, sondern dass er hören und dann reden wird (Joh. 16,13). Das erschließt für mich den Begriff „Wahrheit" positiv: Wahres erkennen hat zuallererst mit dem Hören und mit dem genau Hinschauen zu tun. Wahrheit kommt nach biblischem Verständnis nicht aus einem absolut gesetzten Gedanken, sondern aus dem Gespräch, aus Fragen und Antworten. Dieses wird symbolisiert und abgebildet in der Vorstellung, dass Gott selbst sich gerade nicht absolut setzt in seinem Sein, sondern dass er sich - gewissermaßen wie in einem inneren Gespräch - im seinem Schöpfer-Sein, in Jesus und eben auch im Geist zeigt.
Daher kommt der Geist der Wahrheit, der am Pfingstfest besungen wird. Und lädt zum Bekennen, aber auch zum Fragen und Um-Antworten-Ringen ein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10851
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