SWR2 Wort zum Tag

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Vor einigen Jahren hat der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer ein hierzulande wenig beachtetes Buch geschrieben: „Das Jesus-Evangelium". Frommes Spätwerk eines häufig als enfant terrible aufgefallenen alternden Literaten? Weit gefehlt!
Provokativ klingt der Titel und ist auch so gemeint: Nachdem etliche, mit dem historischen Jesus gar nicht mehr persönlich bekannte Autoren es unternommen haben, die Jesus-Geschichte aufzuzeichnen, ergreift der Herr und Meister selbst das Wort. Die biblischen Evangelisten werden mancher Übertreibung und Unkorrektheit bezichtigt. Schon sieht es so aus, als wolle Norman Mailer seine Leser aus dem Dickicht der vielen, zum Teil sich widersprechenden biblischen Aussagen befreien, um ihnen die autoritative Version des „Herrn" selbst anzubieten.
Doch Mailer verfolgt ein anderes literarisches Ziel. Sein Jesus-Roman ist konsequent in der Ich-Form geschrieben - das Leben und Sterben Jesu also, von ihm selbst erzählt. Nur, wann? An die frühe Kindheit kann sich der literarische Ich-Erzähler Jesus natürlich nicht mehr erinnern; er ist auf die Berichte seiner Eltern angewiesen, doch seinen Tod, seine Auferweckung, seine Verwandlung und seine eigene Wirkungsgeschichte bekommt der Mailersche Jesus durchaus in den Blick. Es ist also der Auferstandene, der hier spricht - und das dürfte das Besondere an Mailers Fassung sein: sie ist im besten Sinn eine Ostergeschichte.
Was der Leser bei seiner Lektüre geboten bekommt, ist zunächst ein Jesus aus Fleisch und Blut, ein wirklicher Mensch, mit seinen Gefühlen, vor allem seinem Mitleid den Kranken und Ausgebeuteten gegenüber, aber auch mit seinem Zorn gegen jedes religiöse Machtgebaren und mit seinem Zweifel an der eigenen Lebensbestimmung. Im Ohr des Mailerschen Jesus mischen sich die Einflüsterungen Gottes, des Satans und der Menschen und werden verwechselbar. Schon das macht das Buch zu einer authentischen Beschreibung dessen, was Glaube genannt werden kann. Im Hier und Heute ist Glaube selten eindeutig - und darum Wagnis.
Ganz am Ende greift der Lebensbogen weit über die kurze irdische Frist hinaus. Mailers Jesus-Evangelium mündet in eine Schau, in der Jesus seine Lebensbestimmung im klaren Licht Gottes sieht, jenseits von Leben und Tod, in der vollendeten Gemeinschaft mit Gott. Und das hoffen Christen ja auch, dass sie einmal - nach diesem Leben - ihr Leben im Licht Gottes sehen oder, wie Paulus sagt, sich selbst erkennen, wie sie von Gott erkannt sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10843
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