SWR4 Sonntagsgedanken

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kann er über sich selbst hinaus wachsen

Pilgern auf dem Jakobsweg, möglichst bis Santiago de Compostela, ist der Traum vieler Menschen. Immer mehr erfüllen sich diesen Lebenstraum und wandern los. Zum Glück gibt es nicht nur den großen spanischen Jakobsweg, sondern auch die unbekannteren in unserem Land. Und so hab ich mich auch schon aufgemacht, den Jakobsweg in meiner Region zumindest abschnittsweise zu wandern. Aber richtiges Pilgern, von Herberge zu Herberge, mit schwerem Gepäck und Blasen an den Füßen ist das noch nicht gewesen. Und die Magie des Jakobswegs hat sich mir in heimischen Regionen auch nicht unmittelbar erschlossen. Deshalb bleibt so eine unbestimmte Sehnsucht, den Erfahrungen derer nachzuspüren, die das Ziel des spanischen Jakobsweges erreicht habe.
Vor ein paar Tagen hatte ich Gelegenheit, Felix Bernhard kennenzulernen. Er ist bis nach Santiago de Compostela gepilgert. Aber nicht zu Fuß, sondern im Rollstuhl. Und das nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach, insgesamt über 3000 km. Unglaublich, was der Mann geschafft hat. Er sitzt mir gegenüber als Gast meiner Kirchengemeinde und strahlt eine ungeheure Vitalität und Lebensfreude aus. Nichts und niemand scheint ihn aufzuhalten in seinem ungebremsten Drang, immer wieder neue Wege zu erwandern. Barrieren gibt es nicht wirklich. Zur Not rutscht er aus dem Rollstuhl heraus und zieht ihn hinter sich her. Wenn es zum Beispiel steile Berghänge hoch geht oder aber durch felsige Flussbetten.
Was ich mir als einigermaßen fitte Fünfzigerin nicht zutrauen würde, nämlich ganz allein zu pilgern - denn wer weiß, was alles passieren kann unterwegs - das macht Felix Bernhard ganz selbstverständlich und furchtlos. Es ist ganz einfach, sagt er: „Du brauchst nur zu vertrauen. Du hast soviel Potential in dir, du kannst viel mehr als du dir eigentlich zutraust."
Das ist mehr als positives Denken. Das ist ein tiefes Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten. Nicht selbst gemacht, dafür fällt man viel zu oft auf die Nase. Felix Bernhard sagt: „Mein Vertrauen in Gottes Führung und Schutz ist blind, manchmal fast kindlich. Das hat mich soweit gebracht und ich bin noch lange nicht am Ziel."

Der Mann sitzt im Rollstuhl, aber er kommt mir weder gefesselt noch abhängig vor. Im Gegenteil. Ich erlebe einen Menschen, der auf eine faszinierende Weise frei ist. Frei von Selbstmitleid, frei von Neid auf die, die zu Fuß den Jakobsweg pilgern. „Ich bin im Rollstuhl, aber den Rollstuhl im Kopf habe ich verbannt", sagt Felix Bernhard. „Ja, ich hab gehadert nach meinem Verkehrsunfall mit 19 Jahren. Aber irgendwann hab ich mir vorgenommen: Du wirst dich nicht begrenzen lassen durch den Rollstuhl. Du machst das, was du vorher auch getan hast. Sport, dich am Leben freuen, reisen. Ja, Gott legt eine Last auf, aber er hilft uns auch."
Wenn Felix Bernhard das so von sich sagt, höre ich das mit großem Respekt. Aber dann bin ich doch am rebellieren:
Ist es denn immer Gott, der eine Last auflegt? Sind nicht viele Lasten auch selbst gemacht? Weil ich mir zuviel aufbürde und nicht nein sagen kann. Weil ich mich nicht entscheiden kann und immer hin- und herlaviere. Weil ich zu unflexibel bin, und mich festbeiße anstatt loszulassen.
Ja, vieles ist selbst gemachte Pein. Aber es gibt eben doch auch die Lasten, die über einen kommen und denen man sich stellen muss, ja, sogar fügen muss. Lasten, die ich nicht selbst verursacht habe und die auch niemand verhindern konnte. Schweres, für das niemand verantwortlich gemacht werden kann. Gott lässt das zu.
Es ist Lebensgepäck, das wuchtig auf den Schultern lastet.
Ich weiß, es gibt kein Leben ohne Last. Aber das ist nicht nur schlecht. Vielleicht machen Lasten lebenstüchtiger, weil man über sich hinauswächst. Vielleicht machen Lasten auch dankbarer, wenn man bedenkt, was man schon alles bewältigt hat. Und wer selbst schwer zu tragen hat, sieht schneller und sensibler die Not des anderen.
Felix Bernhard, der Pilger im Rollstuhl hat in vielen kniffligen Lebenssituationen erlebt: Wenn's richtig dick kommt, bin ich nicht allein. Ich muss nicht alles auf mich nehmen. Gott ist doch da und hilft. Manchmal in Form von Polizisten, die ihn auf der Nationalstraße neben vorbeibrummenden LKW's eskortieren. Manchmal in Form von Kindern, die vor Anbruch der Dunkelheit sehen, dass er im Bachbett feststeckt und ihn herausziehen.
Es sind Rettungsgeschichten, die jeder aus seinem Leben erzählen kann. Manchmal hilft es innezuhalten und mal zu überlegen, wo und wann man Hilfe erlebt hat. Sich zu erinnern, wie ein alter Freund geholfen hat, die Wohnung zu renovieren, oder die Oma die Kinder versorgt hat, als man selbst fiebernd im Bett lag. Oder Freunde die Examensarbeit in letzter Minute vor dem Abgabetermin noch mitgetippt haben. Wieder ein Gespür dafür zu bekommen, wann und wie mir ein anderer Mensch geholfen hat. Und dahinter Gott zu entdecken, der hilft, das leichte Gepäck und noch mehr die Schwerlasten zu tragen.
Erinnern und dann fest vertrauen, dass Hilfe wiederkommen wird. Wer so lebt, kann auch verwegene Ziele ansteuern, zum Beispiel von Frankfurt nach Jerusalem mit dem Rollstuhl.
Ich traue dem Mann zu, dass er es schaffen kann.

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