Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„So ein verdammter Mist!" So fluche ich zugegebenermaßen selten. Aber da hatte ich wirklich einen Grund. Die Kinder hatten wieder einmal ihre Schulranzen kreuz und quer im Flur stehen lassen. Ich hab nicht aufgepasst, als ich abends spät durch den dunklen Flur tappte - und schon lag ich auf der Nase. Ich musste mich ärgern - und fluchen. Leider gibt es Situationen, die weit über diesen kleinen Ärger hinausreichen. Wenn ich nur einmal Revue passieren lasse, was ich in den letzten Jahren erlebt habe. Ein Mitschüler unseres Sohnes ist in der Grundschule vom Zug erfasst worden und war auf der Stelle tot. Die Mutter eines anderen Kindes hat sich das Leben genommen. Viele Paare, mit denen wir befreundet sind, haben sich getrennt. Mein Bruder hat lange nach einer Stelle suchen müssen, es sah ziemlich finster aus. Das sind nur vier Geschichten von vielen. Und alle geben einen guten Grund zur Klage. Obwohl Klagen keinen guten Ruf in unserer Gesellschaft hat. Klagen gilt schnell als Jammern, als Meckern. Und das will keiner hören. Dabei ist die Klage wichtig. Weil es bei der Klage ums Ganze geht. Nicht nur um den kleinen Ärger, es geht ums Leben. Um eine echte Bedrohung. Um echte Angst. Da ist Klagen kein Jammern, sondern setzt sich auseinander mit beklagenswerten Zuständen. Diese Klage hat auch vor Gott Platz. In der Bibel heißt es einladend und nüchtern zugleich: „Schüttet euer Herz vor ihm, vor Gott, aus!" (Psalm 62,9) Und genau das machen die Menschen der Bibel ohne falschen Respekt. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie klagen Gott an, verklagen ihn. Das finde ich spannend. Der Gott der Bibel ist offenkundig einer, mit dem man richtig ringen und kämpfen kann. Der ein offenes Ohr für das Leid hat. Ich darf klagen, darf mich beklagen. Darf auch sagen: „Gott, das sind einfach untragbare Zustände." Und dann merke ich vielleicht, dass die Klage auch wie ein Ventil funktioniert. Ich lasse Luft ab, lasse meinen Ärger und meine Wut raus, meine ganze Angst. Und kriege dadurch langsam neue Luft. Komme zu Atem. Wer zu Atem kommt, wer wieder richtig durchatmen kann, der ist in der Lage, nach vorne zu sehen. Schritte nach vorne zu machen. Und eben nicht beim Leid stehen zu bleiben. Ich finde das einen guten Grund zu klagen, wenn es nötig ist.

 

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