SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wenn ich fotografiere, halte ich gern im Bild fest, was mir wichtig ist. Nach Jahren sage ich vielleicht: Das war beim 60. Geburtstag. Das ist er, das ist sie. Aber müsste ich nicht sagen: Das war er, das war sie?
Denn Bilder zeigen immer, wie es einmal war, in einem bestimmten Augenblick. Sie zeigen nie unseren Weg, nicht unsere Geschichte seit dem Tag, an dem das Bild entstand.
Von der Gefahr, auf eine Vorstellung festgelegt zu werden, erzählt Bertolt Brecht in einer Geschichte von Herrn Keuner: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert'. ‚Oh'! sagte Herr K. und erbleichte."  
Warum erbleicht Herr Keuner? Ist er etwa der geblieben, der er einmal war? Hat er sich etwa nicht verändert? Was sagt mir diese Geschichte?
Auch Herr Keuner ist einen Weg gegangen, hat sich in dieser Zeit verändert. Aber der andere, der ihm begegnet, hat ihn auf das alte Bild festgelegt, das er von ihm gewonnen hat. Er legt ihn fest auf das, was er damals war, und er sieht nicht auf das, was er jetzt ist.
Der Reichtum einer Lebensgeschichte ist mehr als ich in einem Bild festlegen kann. Das Bild, auf das ich festgelegt werde, nimmt mir gelebtes Leben, gemachte Erfahrungen und Veränderungen. Denn der Mensch ist immer mehr als das Bild, das ich mir von ihm mache.
Im Alten Testament, in den zehn Geboten, haben Generationen ihre Erfahrungen menschlichen Lebens und ihre Gotteserfahrung ausgedrückt. Im zweiten Gebot steht: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. (2. Mose 20,4) Ich verstehe das Gebot so: Es warnt davor, mir ein Bild von Gott zu machen. Aber es ist auch wichtig für den Umgang mit Menschen. Ich kann auch einen Menschen einsperren durch ein Bild, auf das ich ihn festlege. So sehr, dass ich ihm die Luft nehme, auch anders zu sein.
„Du sollst dir kein Bildnis machen". Das meint doch, den anderen nicht festzulegen, sondern seine Veränderung, seinen Weg und seine Geschichte wahrzunehmen. Dorothee Sölle sagt es so: „Wer immer sich ein Bild vom anderen macht, der leugnet das Fremde, Unerwartete, Nochnichterschienene im anderen."
Das heißt für mich, dem anderen die Freiheit zu gewähren, sich verändern zu können, offen zu sein für das, was nicht erfassbar ist.

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