SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wie viele Gaben habe ich wohl in meinem Leben schon einschlafen lassen? Wie viele Möglichkeiten, die ich hätte entwickeln können, sind verschüttet worden im Lauf meines Lebens? Weil die Umstände dagegen waren. Weil ich die Prioritäten anders gesetzt habe. Oder, weil ich es zugelassen habe, dass etwas in mir einschläft, was ich eigentlich besser wach und am Leben gehalten hätte.
Wie viele Gaben habe ich einschlafen lassen?
Bei mir war diese Frage auf einmal präsent zwischen Weihnachten und Neujahr. Nicht über die Maßen dramatisch. Ich habe es am Klavier gemerkt. Mir ist bewusst geworden, wie selten ich in diesem Jahr gespielt habe. Warum auch immer. Und ich habe mir geschworen, der Klavierschlaf darf in diesem Jahr nicht weiter gehen.
Ein Glück, wenn man rechtzeitig erinnert wird, und so wieder zum Leben erwecken kann, was einzuschlafen drohte. Und damit auch selbst gewissermaßen wieder zum Leben erweckt wird.
Einige evangelische Kirchen erinnern an ein anderes Beispiel. Für 2011 haben sie sich vorgenommen: „Wir wollen an die Möglichkeiten der Taufe erinnern." Sie wollen dabei nicht nur Menschen an die Taufe erinnern, die Kinder haben und sich fragen, ob sie diese taufen lassen sollen. Das auch. Sie wollen aber vor allem auch Getaufte erinnern. Mich und Sie, wenn Sie getauft sind. Gerade weil der Beginn der christlichen Existenz in der Regel lange zurück liegt, kann es mit der Taufe ähnlich gehen wie mir mit dem Klavier spielen. Man hört irgendwann einmal auf, im Leben die christlichen Saiten klingen zu lassen.
Martin Luther hat dagegen einmal unnachahmlich prägnant gesagt.
„Man soll jeden Tag in die Taufe hineinkriechen, damit man frisch belebt wieder daraus hervorkommt."
Die Taufe ist also für einen Christenmenschen wie der Ursprung fürs ganze Leben. Aber keiner in ferner Vergangenheit, sondern ein Ursprung, mit dem man jeden Tag quasi neu sich verbinden sollte. Ich versteh Luther so: Christliches Leben ist wie Musik machen. Es kann das Leben täglich bereichern, ohne dass es deshalb langweilig wird: Hoffen, glauben und lieben zum Beispiel: wenn man das nicht täglich übt, wird aus der Taufe eine Relikt aus alten Zeiten, die nicht mehr zum Klingen kommt. Wie ein Klavier, das verschlossen in der Wohnung steht und sich nach und nach verstimmt. Eine Gabe des Lebens, die man hat einschlafen lassen.
Musik und Taufe: beide geben dem Leben jeden Tag eine neue Qualität. Wenn man davon Gebrauch macht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9831
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