SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Engel, gibt's die? Von den Spuren, die sie im Alltag hinterlassen, erzählt die folgende winterliche Geschichte.
Der Schnee liegt wie endlos weißes Tuch über der Landschaft. Büsche und Bäume ragen weißen Zipfelmützen gleich aus dem Schnee. Menschen und Tiere, die vorher hier gingen, haben einen schmalen Pfad im Schnee ausgetreten. Es ist sehr still, nur die eigenen Schritte knirschen.
Der alte Mann hält seinen Enkel an seiner Hand. Der ist, wie er selbst, eingepackt in wärmenden Stoff. Den bunten Schal fest um seinen kleinen Hals gewickelt. Die Mütze tief ins Gesicht geschoben. Es ist anstrengend, durch den Schnee zu spazieren.
Schau einmal, sagt der Großvater, und verlässt plötzlich den schmalen Pfad. Er tritt behutsam auf das unberührte Schneefeld, geht vorsichtig in die Hocke und liegt plötzlich rücklings im Schnee. Dann breitet er Arme und Beine aus zu einem großen X und klopft mit den ausgestreckten Armen in die lockere Decke aus weißen Schneekristallen. Erst ein paar Mal noch oben. Dann ein paar Mal nach unten. Im Schnee ist eine Figur entstanden.
Vorsichtig erhebt sich der Großvater, um sein Werk nicht zu zerstören, und tritt auf den Weg zurück. „Schau einmal, sagt er, kannst Du ihn erkennen?" Ein Engel, ruft der kleine Mann, ein richtiger Engel mit Flügeln. Wie schön du das gemacht hast!
Jetzt wirft sich auch der Enkel rücklings in den Schnee und drückt mit seinen Armen Engelflügel in das wattige Weiß. Da liegen sie nun beieinander im Schnee: der große Engel und daneben der kleine Engel.
Großvater und Enkel betrachten ihr eindrucksvolles Werk. „Aber machen denn Engel Abdrücke", fragt der Enkel nach einer kleinen Pause, „wo sie doch fliegen? Sie sind doch leicht wie Luft!"
„Doch", sagt der Großvater, „Engel machen schon Abdrücke. Wenn ein großer Engel einem kleinen Engel begegnet, dann gibt es schon Abdrücke. Unvergessliche Abdrücke." Der Großvater lächelt.
Der kleine Mann ist zufrieden. Er dreht sich noch einmal um zu den beiden Engeln im Schnee. Dann fasst er die warme Hand des Großvaters und stapft weiter mit ihm durch den kalten Winternachmittag.
Engel brauchen keine Flügel, sagt die Geschichte. Aber sie sind manchmal ganz nah und nehmen uns bei der Hand. Man muss nur genau hinschauen.

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