SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Zum Jahresende bescheren uns die Medien regelmäßig Rückblicke auf das vergangene Jahr. Das ist schon zum Ritual geworden. Doch die großen Bilder des vergangenen Jahres, wie das Fernsehen oder Zeitschriften sie zeigen, haben selten etwas mit meinen eigenen Erinnerungen zu tun. Deshalb nehme ich mir am Ende eines Jahres gerne Zeit für einen ganz persönlichen Jahresrückblick. Auch das ist zu einem Ritual geworden, zu meinem Ritual.
Ein Blick in den Terminkalender hilft mir dabei oder Bilder, Fotos, vielleicht auch ein Erinnerungsstück, mitgebracht aus dem Urlaub, oder eine Einladungskarte zu einem Fest. Ich gehe das Jahr noch einmal durch, versuche für jeden Monat mindestens ein wichtiges Ereignis zu erinnern, suche nach Themen, die sich durchziehen. Was hat mir Freude bereitet? Was ist gelungen? Hat mich etwas überrascht, auch unangenehm überrascht? Sind irgendwo Sorgen oder Ängste aufgebrochen?
Erinnerungen sind mehr als Daten und Fakten aus einer zurückliegenden Zeit. Sie enthalten immer auch Gefühle. Das Betrachten alter Bilder löst ein Lachen aus oder ruft Tränen hervor; es kann verdrängten Ärger wieder aufsteigen lassen oder sogar Aufregungen wiederbeleben.
Wir leben von unseren Erinnerungen samt den Gefühlen, die wir in ihnen aufbewahren. Sie machen uns aus. Sie haben meine Persönlichkeit geformt und mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Zumindest in einer Hinsicht ist es richtig: Ich bin auch die Summe meiner Erfahrungen - und die blicke ich im Spiegel meiner Erinnerungen an.
Der Blick zurück in frühere Episoden meines Lebens macht mir bewusst, was mich prägt. Das kann zur Auseinandersetzung führen und zur Aussöhnung mit meiner Lebensgeschichte. Was mich beunruhigt, will ich in Gottes Hände legen, und wofür ich dankbar sein kann, will ich festhalten.
In der Bibel wird die Geschichte eines Menschen erzählt, der in der Begegnung mit Jesus eine heilsame Erfahrung machen konnte: von einem schweren Leiden wurde er befreit. Später kehrte er an den Ort seiner Heilung zurück, um demjenigen wieder zu begegnen, der ihn geheilt hat. Er kehrte zurück, um den Schmerz seines früheren Leidens, aber auch die Dankbarkeit für die erfahrene Veränderung nochmals und vielleicht tiefer als je zuvor empfinden zu können - und um so in der Kraft dieser Erfahrung weiterzugehen.
Erinnerungen können helfen, den eigenen Lebensweg besser zu verstehen. Sie machen reifer - vielleicht auch sicherer. Und dann haben Rückblicke nichts Vergoldendes oder Sentimentales an sich, sondern sind wie ein Blick in den Spiegel.

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