Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Eile macht unbarmherzig, religiöse Bildung macht nicht hilfsbereit.

Eile macht unbarmherzig. Das zeigt ein wissenschaftliches Experiment mit Theologiestudenten. Zunächst schrieben die Studenten eine Arbeit über den Barmherzigen Samariter. In dieser biblischen Geschichte wird ein Wanderer ausgeraubt und niedergeschlagen. Zwei Religionsdiener gehen achtlos an ihm vorbei, erst ein ungläubiger Samariter erbarmt sich und versorgt den Verletzten. Nach ihrer schriftlichen Arbeit kam für die Studenten der zweite Teil des Versuchs - von dem sie natürlich nichts wussten. Die eine Hälfte der Studenten sollte innerhalb der nächsten Stunden den zuständigen Professor für eine Besprechung aufzusuchen. Sie gingen also über das Uni-Gelände und trafen an einer Ecke einen Schauspieler, der sich als Obdachloser verkleidet hatte. Er bat die Studenten stumm um Hilfe. Jeder dritte Student blieb stehen und wandte sich dem Mann zu. Die zweite Hälfte der Studenten sollte sich ebenfalls beim Professor melden. Aber sie wurden zur Eile gedrängt, denn der Professor müsse bald zu einer Vorlesung. Also hetzten sie Studenten über das Uni-Gelände - und nur noch jeder zehnte sah den Obdachlosen. Eile macht offenbar unbarmherzig.
Das Ergebnis überrascht mich nicht. Eile und Hetze machen nun einmal unaufmerksam für andere. Aber dass überhaupt so wenige Theologen einen Blick für den Menschen in Not hatten, das überrascht mich schon. Bestenfalls ein Drittel blieb stehen. Das Experiment macht deutlich: Damals wie heute reicht religiöse Bildung alleine nicht aus, um sensibel für das Leid anderer zu werden. Und es reicht auch nicht aus, Zeit und Gelegenheit zum Guten zu haben. Entscheidend ist, was der barmherzige Samariter hatte: Den offenen, unverstellten Blick für den Mitmenschen, die Herzensbildung, von der Papst Benedikt schreibt. Die ist aber nicht abhängig von Intellekt und Studium, sondern von Verständnis und Mitleid für Menschen in Not. Aber glücklicherweise ist Hilfsbereitschaft nicht von Bildung abhängig. Wir können sie bei allen Menschen finden. Deshalb bin ich sicher, es gibt sie heute wie damals: Die Menschen, die sich anrühren lassen, sich Zeit nehmen und zur Hilfe bereit sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9653
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