SWR3 Gedanken

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Stille Nacht, heilige Nacht. So kurz vor Weihnachten kann ich das kaum mehr hören. Lange Zeit ist es mir auch schwer gefallen, es am Heiligen Abend überhaupt noch zu singen. Zu sehr ist dieses und viele andere Advents- und Weihnachtslieder verkommen zum rosaroten, emotionalen Kitsch auf Weihnachtsmärkten und in Einkaufszentren. Dabei hat das Lied ja eine Geschichte, die alles andere als zuckersüß und rosarot daher kommt. 1816, als es entstand, war die Herrschaft Napoleons über Europa gerade wenige Jahre beendet. Immer wieder hatte das einfache Volk unter Kriegen und Aufständen gelitten. Die Sehnsucht nach einem Frieden, der endlich einmal länger andauern würde, war also groß. In diese Situation hinein klang damals das heute berühmteste Weihnachtslied. Ähnliches gilt auch für andere dieser heute oft missbrauchten Lieder. Zwei der ganz großen Textdichter, Friedrich Spee und Paul Gerhardt, erlebten beide den Horror des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert mit. Europa versank damals jahrzehntelang in unvorstellbarem Elend. Mit Kitsch und glühweinseliger Weihnachtsstimmung von heute hatte all das nicht das geringste zu tun. Die Advents- und Weihnachtslieder der beiden aber entstanden nicht zuletzt vor diesem düsteren Hintergrund. Wir singen sie noch heute. Natürlich soll und darf Weihnachten unsere Gefühle ansprechen. Doch das Fest hat eben auch eine andere, eine ernste Seite. In ihr drückte sich für Menschen, die im Elend steckten, zu allen Zeiten stets auch eine Hoffnung aus. Eine Hoffnung, die sie mit Gott verbanden. Jesus der Retter ist da, heißt es im Lied von der stillen Nacht am Ende der letzten Strophe. Den Menschen, die es damals sangen, war das bitterer Ernst.

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