SWR2 Wort zum Tag

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Das Leben ausnutzen. Jede Stunde bis an den Rand ausschöpfen - Keine Sekunde vergeuden. Wie macht man das? "Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann und konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenutzt vorübergehen zu lassen." So beginnt eine Geschichte von Viktor Auburtin, einem deutschen Journalisten um 1900. Der Mann, den Viktor Auburtin schildert, benutze ein Verfahren, das ich sehr gut kenne: Am liebsten beschäftigte er sich mit möglichst vielen Dingen auf einmal. In jedem Moment seines Lebens plante er schon den nächsten. Wenn er irgendwo angekommen war, bereitete er in Gedanken schon die Abfahrt vor und überlegte sich, wie die Reise weitergehen sollte. „War er im Badeort, so beschloss er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan her, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könne."
In Gedanken immer schon woanders, nie im Hier und Jetzt. Dazu hatte er einfach keine Zeit. Das brachte er nicht übers Herz. Da hatte er einfach Angst, etwas zu verpassen. Wenn dieser Mann also „im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher nehmen könne. Und während er den Wein hastig hinuntergoss, dachte er, dass bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre."
"Das war gewiss ein merkwürdiger Mann, wie du nie einen gesehen hast," kommentiert Auburtin ironisch. Ein merkwürdiger Mann gewiss. So merkwürdig wie ich selbst, wenn ich mir mit einer Hand die Zähne putze, mit der anderen die Jalousie hochziehe, dabei Nachrichten höre und überlege, was ich am Abend zu essen kochen könnte. Und ich wette: der hätte auch in der Adventszeit seinen Sommerurlaub geplant.
Als der Mann, von dem Auburtin erzählt, auf dem Sterbebett lag,  „wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich dieses Leben gewissermaßen gewesen sei." Obwohl er mehr gesehen, mehr genossen, mehr erlebt hatte, starb er ärmer als andere. Denn in keinem Moment seines Lebens hatte er wirklich gelebt, weil er immer nur an das dachte, was fehlt oder besser sein könnte.
Seltsam, dass ein Leben leer wird, weil es mit zu vielem gefüllt wird. Wie zwecklos es erscheint, weil immer an den Zweck gedacht wird. Und wie man sich zusammenreißen muss, um nicht in dieses irre Tempo zu verfallen: Seinem eigenen Leben immer drei Schritte voraus zu eilen. Dabei ahnt man: Wer langsam macht, hat mehr vom Leben. 

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