Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ lese ich in einem Buch. Das stimmt - vieles macht erst im Nachhinein Sinn:
Da ist etwa ein Mann, der trauert auch nach zwei Jahren immer noch so um seine Frau, dass er kaum mehr lebensfähig, geschweige denn arbeitsfähig ist.
In seiner Verzweiflung sucht er einen Seelsorger auf.
Der hört sich alles sehr genau an: wie eng sie war, die Beziehung der Eheleute und wie leer und sinnlos sich sein Leben nun anfühlt.
Dann stellt er dem Mann eine Frage:
„Was wäre gewesen, wenn statt Ihrer Frau Sie zuerst gestorben wären?“
Der Mann ist entsetzt.
„Das wäre noch viel schlimmer gewesen. Denn genau das war immer die aller-größte Angst meiner Frau; das hat sie oft gesagt.“
Der Mann blickt nachdenklich vor sich hin. Schließlich nickt er:
„Ja, nun sehe ich etwas, das mir die ganze Zeit entgangen ist: Wenn schon einer von uns gehen musste, dann ist es so herum besser. Dann ist ihr wenigstens das, was ich durchmache, erspart geblieben.“
Die Frage des Seelsorgers hat ihn wieder in Berührung mit seinen Gefühlen gebracht: er spürt die Liebe zu seiner Frau und um ihretwillen kann er die Trauer ertragen. „Liebe ist stark wie der Tod“ sagt das Hohe Lied (HL8, 6). Sie ist das größte Geschenk Gottes. Jetzt hat der Mann dem Tod etwas entgegenzusetzen: „Du kannst mir den Menschen nehmen, aber über meine Liebe hast du keine Macht.“
Mit dieser Erkenntnis kann der Mann weiter leben. Sie ändert zwar nichts an seinem Verlust, aber sie ändert etwas an seiner Einstellung zum Leiden:
Wenn man weiß, wozu man leidet, lässt es sich leichter tragen.
„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ – das allerdings kann nur jeder für sich selbst tun.
Es ist ein großer Unterschied, ob ein Hinterbliebener zu so einer tröstlichen Erkenntnis gelangt, oder ob jemand anderes ihm das sagt. Gut gemeinte Deutungen: „Wer weiß, was deiner Frau alles erspart geblieben ist…“ helfen Trauernden nicht.
„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“
Ich allein kann mein Leben deuten. Aber dabei können mir andere helfen – weniger mit Antworten, als mit einer klugen, behutsamen Frage.

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