SWR2 Wort zum Tag

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„Suchende sind wir immer."[1] Mit dieser Gedichtzeile lässt sich das Leben und das dichterische Werk von Lina Kromer am besten beschreiben, der Bauernmagd und Lyrikerin aus Obereggenen im Markgräfler Land. 1977 ist sie mit 88 Jahren gestorben. Sie hat keinen Platz unter den großen und bekannten Namen der Literatur gefunden. Und doch nehmen mich die Kraft ihrer Bilder, die Offenheit ihres Fragens, die Tiefe ihrer Gedanken gefangen.
„Ich schrieb, wie es mir geschenkt wurde, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, auf der Suche nach Gott", hat Lina Kromer einmal über sich selbst gesagt. „Ewige Fragen" ziehen sich durch ihre Gedichte: Warum leben wir und wozu sind wir? Was hat uns aus dem Dunkel gerissen und uns auf einen flüchtigen Stern geworfen? Warum zieht sich eine tiefe, rote Furche von Anfang an durch die Erde und warum steht der Bote vom anderen Ende, der Tod, an allen Ecken? Oder: Warum gibt es Menschen, die empfinden, was gut und schlecht ist, und die doch nicht frei sind, das Gute zu tun? Fragen nach dem Warum, wie ein Schrei in schwarzen Nächten - oft ist die Verzweiflung nahe, weil keine Antwort kommt.[2]
Mitten in diesen Fragen steht der Mensch Sie nennt ihn „Bruder Namenlos"[3] - das unbekannte Ich, das unbekannte Du. Und zwischen Ich und Du,  so ein Bild von Lina Kromer, ist ein breiter Strom, der trennt, was zusammen gehört - ohne Steg und Brücke zueinander. „Man kennt sich lange / und kennet sich nicht, / kommt einer zum andern mit fremdem Gesicht. // Findt keiner den Schlüssel / zur anderen Tür, / mit bebenden Wünschen / steht jeder dafür."[4]
Ist die Suche nach dem „Bruder Namenlos" auch die Suche nach Gott? „Und Du lässt mich allein!"[5], klagt sie. Und doch spürt das Herz bei jedem Schritt ein treues und tapferes Geleit. Ist das der unbekannte Gott, oder ist das ein unerkannter Mensch, der mir doch seine Nähe schenkt? 
Lina Kromer ist ein tief gläubiger Mensch. Aber ihr Glaube löst Gottes Geheimnis nicht in Antworten auf. „Du bist!",[6] so spricht sie in einem Gedicht Gott an. Das erinnert mich daran, wie Gott dem Mose in der Wüste, in der Vision eines brennenden Dornbuschs, seinen Namen offenbart: „Ich bin der Ich bin." Ich bin da, bedeutet dieser Name, aber ich bin da als unnennbares Geheimnis. Und die Dichterin bekennt: „Du bist! Du bist! Und kein Begreifen / rührt an Deinen Saum." Könnte aber nicht gerade darin die tiefste Nähe zwischen Mensch und Gott liegen, dass Mensch und Gott ein unbegreifliches Geheimnis sind? Und so bleibt, sagt die Dichterin, die Frage, die sie nicht verstehe: „Warum so hilflos und staubkorn klein / und doch so groß und göttlich frei / so fremd und so verwandt / der Mensch seinem Urbild sei?"[7] 

[1]Lina Kromer, „Suecher simmer allewil", in: An Bruder Namenlos. Allemannische Gedichte, Freiburg (Rombach) 1958, 2. Aufl. 1965, 12.
[2]Dies., übers. nach „Ewigi Froge", in: a.a.O. 7.
[3]Dies., „An Bruder Namenlos", in: a.a.O. 5.
[4]Dies., „Man kennt sich lange", in: Nur ein Mensch zu sein. Ausgewählte Gedichte, 1979, 2. Aufl. 1989, 26.
[5]Dies., übers. in „Gesicht am Strom", in: a.a.O. 121.
[6]Dies., „Du bist! Du bist!", in: a.a.O. 173.
[7]Dies., übers. in „Gesicht am Strom", in: a.a.O. 121.

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