SWR2 Wort zum Tag

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Vor kurzem bin ich auf die Spur von Lina Kromer gestoßen. Lina Kromer war eine Dichterin. Im Jahr 1889 ist sie in Obereggenen, einem malerischen Dorf im südbadischen Markgräfler Land, geboren, als Tochter eines Bauern und Waldhüters. Dort ist sie 1977 auch gestorben, zwei Tage vor ihrem 88. Geburtstag. Zwei Weltkriege hat sie mit ihren ganzen Schrecken erlebt. Nachdem ihre Eltern früh gestorben waren, hat sie bis ins hohe Alter auf dem Hof ihrer Schwester als Magd gearbeitet. Sie sei im ganzen Dorf nur die „Gotti" genannt worden, die Patin, so wird erzählt. Denn sie nahm am Leben ihrer Mitbewohner Anteil und wusste von Freud und Leid. „Ungewollt ist sie zu einer Seelsorgerin geworden ...", schreibt der Ortspfarrer in einem Nachruf und fügt hinzu: „... wie sich das ein beamteter Pfarrer als Erfüllung seines Berufs nur wünschen und erbeten kann." Obwohl Lina Kromer die meisten ihrer Gedichte in der alemannischen Sprache ihrer Heimat verfasst hat, wäre es sicher verkürzt, sie als Mundartdichterin zu bezeichnen. Es ist wohl eher so, dass ihr die vertraute Sprache ihrer Umgebung und ihrer Mitmenschen am besten geeignet schien, dem nahe zu kommen und in die Tiefe dessen vorzudringen, was Menschen bewegt und umtreibt. Viele ihrer Bilder schöpfte sie aus der Natur, aus der heimatlichen Landschaft. „Da sind die Gedanken wie Lieder auf mich zugekommen", sagt sie selbst einmal. Aber es ist nicht die Idylle, die sie in diesen Liedern hört, sondern die Fragen, die unauflösbaren Rätsel des Lebens. „Die Schöpfung ist bei uns klar und abgeschlossen", schreibt sie, „aber das Gewaltige, nicht das Liebliche, das Furchtbare, oft Vernichtende, hat mich umgetrieben."
Lina Kromer gibt sich in ihren Gedichten als ein leidenschaftlich suchender Mensch zu erkennen. Einmal sagte sie: „Ich schrieb, wie es mir geschenkt wurde, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, auf der Suche nach Gott. Und so soll es bleiben." Wo die Ahnung des Sinnes von Leben und Gott in ihren Gedichten aufscheint, bewahrt sie doch immer die Ehrfurcht, das Schweigen vor dem Unergründlichen, vor dem Geheimnis. Das Meer in seiner Unendlichkeit ist ein zentrales Bild bei ihr, obwohl sie es erst im hohen Alter zum ersten Mal gesehen hat. 
Woher kommt diese Offenheit, diese Weite, die Kraft der Gedanken und Bilder bei einem Menschen, der nur selten aus der Enge der heimatlichen Umgebung herausgekommen ist? Kommt sie davon, dass Lina Kromer dieses Leben, an dem sie wohl auch gelitten hat, dennoch ganz annehmen konnte? Einmal dichtet sie: „Ich weiß, warum der Herr der Welt / mich in des Lebens Eck gestellt: Nicht, dass die Enge quäle! / So nur zur Sonne den Flug ich richt', / wo Alltagswonne / und Schranken nicht / hindern die Schwingen der Seele."[1]


[1] Zitate: Lina Kromer, Nur ein Mensch zu sein. Ausgewählte Gedichte, 1979, 2. Aufl. 1989.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9484
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