SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast," schreibt der Dichter Leo Tolstoi, „so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich besser bemühen zu begreifen, was du Gott nennst. Wenn einer an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, heißt das nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht aus Holz ist."
Tolstoi wusste sehr gut, wovon er sprach. Der russische Schriftsteller, der heute vor hundert Jahren starb, war nicht nur Erfolgsautor monumentaler Romane. Tolstoi war - vor allem im letzten Drittel seines Lebens - auch religiöser Sinnsucher und unbequemer Christ. Die weltweite Anerkennung, die ihm sein literarisches Werk einbrachte, erfüllte Tolstoi nicht. Auf seiner intensiven Suche nach Sinn wandte er sich auch der Religion zu. Doch die Form des Christentums, die er in der orthodoxen, aber auch in den westlichen Kirchen seiner Zeit fand, stieß ihn ab.
Anders als für viele andere war für ihn damit aber die Frage nach dem christlichen Glauben nicht erledigt: „Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast ... musst [du] dich besser bemühen zu begreifen, was du Gott nennst."
An den Gott, der ihm in den liturgischen Ritualen und dem gesellschaftlichen Handeln der Kirche begegnete, konnte Tolstoi nicht glauben. Er suchte weiter. Und er fand Jesus. Die Botschaft von Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit, wie sie in der Bergpredigt zusammengefasst ist, wurde für ihn zur Leitlinie. Er lebte asketisch, setzte sich für Kriegsdienstverweigerer, politisch und religiös Verfolgte ein und verbreitete seine Auffassung auch literarisch. Am bekanntesten ist wohl die volkstümliche Erzählung vom Schuster Martin, der in der Weihnachtsnacht vergeblich auf den Besuch Jesu wartet und später erkennt, dass der Herr ihn sehr wohl besucht hat - in Gestalt der armen Menschen,  die bei ihm Hilfe gefunden haben.
Leo Tolstoi war kein Heiliger. Sein moralischer Rigorismus und querdenkerischer Lebenswandel belasteten seine große Familie. Und ob der christliche Glaube in der Bergpredigt aufgeht - und wie diese zu interpretieren ist - darüber kann und muss man diskutieren.
Mich beeindruckt an Tolstois Religiosität aber die Konsequenz seiner Suche:
Wenn einer an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, heißt das nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht aus Holz ist."
Sich einzugestehen, dass das, woran man geglaubt hat, nicht wahr ist, das erfordert Mut. Aber es eröffnet auch die Freiheit, neu zu suchen - und zu finden, woran sich zu glauben lohnt. Diesen Mut und diese Freiheit wünsche ich mir - immer wieder.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9454
weiterlesen...