SWR2 Wort zum Tag

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Niemand muß sein Leiden lieben. Nein, auch fromme Christen müssen es nicht gut finden, daß Katastrophen passieren und daß Menschen und Tiere Schmerzen leiden. Eine humane Form, dem Leiden zu begegnen, ist der Zorn. Der Zorn, daß die Welt so ist, wie sie ist. Der Zorn, der oft spontan aufsteigt, wenn ich selbst leide oder andere leiden sehe. Manche haben Angst, Gott zu lästern, wenn sie zornig sind. Gehört es nicht zum Glauben dazu, alles ergeben anzunehmen? Gott wird schließlich schon seine Gründe haben. Und wir Menschen sind nur zu klein und zu unwissend, um sie zu sehen und zu begreifen. Aber genau das macht das Leiden ja so schwer: daß wir es nicht verstehen, daß es über uns und andere kommt, ohne daß wir wissen, warum. Warum ich ? Warum wir? Warum überhaupt? Hiob zum Beispiel, ein Mann aus der Bibel, der alles verliert: Besitz, Kinder, schließlich die Gesundheit, der auch noch verspottet wird und mit guten Ratschlägen traktiert, dieser Hiob pocht vor Gott ständig darauf, daß er diese Schicksalsschläge nicht verdient hat. „In mir kocht es", sagt er (Hiob 30,27), und er will von Gott wissen, warum der ihn leiden lässt. Er muß zwar anerkennen, daß Gott größer ist als er und eine Weisheit hat, an die Hiob nicht heranreicht. Aber das Recht auf den Zorn und auf die Klage bestreitet Gott dem Hiob nicht. Es heißt sogar ausdrücklich, daß Hiob „recht geredet" hat.
Über Leiden zornig sein hat etwas zu tun mit dem Gefühl für Gerechtigkeit. Wir dürfen doch erwarten, glücklich zu sein, wir dürfen für die Kinder ein unbeschwertes Leben erwarten und für die Tiere ein Leben ohne Qual. Wer könnte uns das Recht bestreiten, dieses alles zu wünschen? Und aufzubegehren, wenn wir immer und immer wieder das Gegenteil erleben! „Dein ist das Recht und die Kraft und die Herrlichkeit", so redet der Theologe Fridolin Stier einmal Gott an, um dann fortzufahren: „aber mein ist das Recht auf den Schrei."[1]
Niemand muß sein Leiden lieben. Nichts auf der Welt rechtfertigt den Tod eines Kindes, nichts auf der Welt rechtfertigt die Trennung liebender Menschen. Das darf ich sagen und fühlen, ohne dadurch Gott zu lästern.
Zorn ist kein Zustand, in dem der Mensch auf Dauer leben kann, auf Dauer leben soll. Aber Zorn kann helfen, der Kränkung standzuhalten, die im Leiden liegt. Zorn enthält Kraft, auch im Leiden Würde zu bewahren.

 

[1]  F. Stier, Vielleicht ist irgendwo Tag. Freiburg 1981, 90

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9438
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