SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

In der Straße, in der ich als Kind gewohnt habe, lebte ein blinder Mann. Ich habe mich vor ihm gefürchtet, fand ihn irgendwie unheimlich. Seine Augen waren so verdreht, dass man nur das Weiße sehen konnte – keine Pupillen. Unheimlich fand ich auch den großen Schä-ferhund, der ihn ständig begleitete.
Die beiden gaben ein seltsames Paar ab, wenn sie so durch die Straßen spazierten. Der Hund war derjenige, der führte – der blinde Mann der Geführte. Wenn sie die Straße über-queren wollten, hielt der Hund am Zebrastreifen an, wartete das Signal der Ampel ab und leitete dann seinen Herrn zur anderen Straßenseite.
Ich fand das zwar unheimlich, aber eigentlich haben mich die beiden auch beeindruckt. Der Blindenhund ebenso wie dieser Mann. Und es fasziniert mich noch heute, was für ein Vertrauen der Blinde seinem Hund entgegenbrachte. In einer Situation, die über Leben und Tod entscheiden konnte, verließ er sich voll und ganz auf das Tier an seiner Seite.
„Blind vertrauen“ – das hat einen negativen Klang in unserer Sprache. Es gilt als minder-wertig unter Augenmenschen. Wer blind vertraut, ist leicht verführbar und unkritisch.
Natürlich gibt es auch ein „gesundes Misstrauen“. Aber das Beispiel von dem blinden Mann und seinem Hund macht mir etwas über die Kraft des Vertrauens klar. Vertrauen wirkt gerade dort, wo ich mit meinem eigenen Sehen an Grenzen komme. Die Redensart „Ver-trauen ist gut, Kontrolle ist besser“ entpuppt sich als Selbsttäuschung, als Lebenslüge. Vertrauen hat es immer mit dem zu tun, was von Kontrolle und kritischer Prüfung nicht erreicht werden kann. Vertrauen-Können heißt, mit den uneinsehbaren Ecken und Winkeln im eigenen Leben fertig zu werden. Mit dem, wohin ich nicht sehe und wo ich mich führen lassen muss.
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