SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Hörenkönnen ist wie eine Brücke zur Umgebung und gehört für mich elementar zum Leben. Es bedeutet: Dabeisein. Leben. Wahrnehmen zu können. Wer nicht hören kann, hört nicht die Sprache der Natur, nicht das Murmeln des Baches, nicht den Wind, nicht den Klang einer Stimme.
Nicht hören, nicht wahrnehmen - das sind trotzdem Erfahrungen, die Menschen immer wieder machen. Da sagt einer und er bindet damit ein bedrückendes Stück Lebenserfahrung zusammen: „Auf mich hört ja keiner." Was hat er erfahren? Jedenfalls: Als taub, als gehörlos erfährt er seine Mitmenschen, obwohl sie Ohren haben.
Und es gibt auch die Erfahrung von Stummsein: Ein anderer sagt, noch mitgenommen von dem, was er eben erlebt hat: „Das hat mir die Sprache verschlagen." Was mag es gewesen sein? Jedenfalls: Sprachlos, stumm wird einer, obwohl er eine Stimme hat. Das sind Redewendungen, die Erfahrungen von Taubsein und Stummsein spiegeln.
Wer ist taub? Taub ist, wer nicht hört, was der andere mitteilen möchte. Taub ist, wer nur die Außenseite der Wörter wahrnimmt, aber nicht das viel Wichtigere: den verhallenden Klang zwischen den Wörtern, den Ton der Pause.
Wer ist stumm? Stumm ist, wer kein Wort für den anderen hat. Leben versickert, wo die Sprache aufhört. Schweigen ist etwas anderes. Im Schweigen kann man sich einig sein. Verstummen lässt das Leben verdorren.
Taubsein und Stummsein, das sind nicht nur organische Defekte.
Im Markusevangelium wird von der Heilung eines Taubstummen erzählt. Diese Geschichte sagt mir: Die Erfahrung von Taubheit und Stummsein, von verschlossenen Ohren und erstorbener Stimme, ist nicht das Ende, sondern die Hoffnung gilt, dass die verschlossenen Ohren sich öffnen können, die erstarrte Zunge gelöst werden kann.
Wo denn? Wie denn?
Zum Beispiel da, wo ich ein Ohr habe für den Fröhlichen und Traurigen, für den Einsamen und Betrübten, wo ich offen und berührbar bin für den, der mich braucht. Zum Beispiel da, wo in der Familie oder in der Schule, im Betrieb oder in der Behörde ein einzelner einem anderen einzelnen seine Stimme leiht, weil der selber keine Worte hat.
Wir alle leben davon, dass wir gehört werden, dass mir ein anderer das Wort des Lebens schenken kann und mir - wie es Ingeborg Bachmann einmal gesagt hat - „in die Mulde meiner Stummheit" ein Wort legt und so meine blockierte Zunge löst, meine verschlossenen Ohren öffnet, so dass ich nicht mehr stumm, nicht mehr taub sein muss.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9367
weiterlesen...