SWR3 Gedanken

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„Weißt du was?" fragt meine kleine Tochter Emma. Nein, weiß ich nicht. „Der Gott hat gezaubert", sagt Emma. Ich bin ganz Ohr. „Der Gott hat gezaubert, dass du jetzt Zeit für mich hast", erklärt Emma und schaut mich erwartungsvoll an.
In diesem Moment bin ich gerade dabei, die Socken zu sortieren. Vorher habe ich die Betten gemacht, war im Fünf-Minuten-Takt am Telefon, habe einen Artikel in einer Fachzeitschrift gelesen und mir ein paar Notizen für die Sonntagspredigt gemacht. Und bei jeder einzelnen dieser Tätigkeiten habe ich zu Emma gesagt: „Gleich, gleich habe ich für dich Zeit. Lass mich nur noch das zu Ende bringen."
Jetzt lasse ich die Socken liegen und setze mich mit Emma an den Tisch, um Memory zu spielen. Denn darauf wartet sie schon den ganzen Morgen. So sehnsüchtig, dass sie sogar den lieben Gott bemüht. Denn dass das bei mir zieht, das hat sie längst begriffen.
Aber wenn ich ehrlich bin, ist es diesmal nicht Gott, der zieht, sondern eben Emma. Weil die „Gleich, gleich habe ich für dich Zeit"-Nummer ziemlich häufig vorkommt. Und weil ich befürchte, dass es für meine kleine Tochter manchmal wirklich wie ein Wunder ist, wenn ich dann endlich Zeit für sie habe. Und das tut mir leid.
Denn es sollte kein Wunder sein, wenn ich Zeit für sie aufbringe. Genauso wenig wie es ein Wunder sein sollte, Zeit für mich zu haben oder Zeit für all die anderen Menschen, die mir etwas bedeuten. Aber diese Zeit kommt in meinem Zeitbudget oft viel zu kurz. Weil so vieles andere sich in den Vordergrund drängt. Weil jedes Telefonat wichtiger zu sein scheint als ein Kind, das Zeit braucht.
Jetzt nehme ich mir Zeit. Und nehme mir vor, das auch in Zukunft zu tun. Lieber einmal nicht ans Telefon gehen oder mit unsortierten Socken leben. Lieber einmal einen Termin absagen oder abends ins ungemachte Bett steigen. Denn es ist zwar Gott, der uns Zeit schenkt, aber wie wir sie nutzen, das ist ganz allein unsere Angelegenheit.

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