SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Leben ist oft ungleichzeitig. Nicht das, was heute anliegt ist wichtig, sondern oft schon der nächste Tag, die nächste Woche, das nächste Jahr. Ich hab zum Beispiel im April ein Krippenspiel für den Heiligen Abend in unserer Gemeinde geschrieben, seit September planen wir zu Hause die Weihnachtsgeschenke, meine Kollegin schreibt jetzt schon eine Predigt für Pfingsten, und der Terminkalender reicht bis weit ins nächste Jahr hinein.
Mir geht das so, obwohl ich weiß, wie schlecht das immer wieder ist, dass ich so ungleichzeitig lebe. Denn dadurch kann ich den Tag heute oft genug nicht mehr richtig wahrnehmen.  Oft genug verpasse ich, was heute wichtig ist, weil ich an morgen und übermorgen denke.
Das Problem gibt's seit Jahrtausenden - und der Rat darauf lautet immer wieder: Nutze den Tag, sei aufmerksam für das, was heute passiert. Wohl wahr. Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille. Und deshalb breche ich heute eine Lanze für das ungleichzeitige Leben. Für ein Leben, das schon den Blick nach vorne wirft. Klar, was heute passiert ist wichtig. Und wer weiß, ob ich überhaupt noch meine eigenen Pläne erleben kann? Nachher plane ich - und dann werde ich krank, sterbe gar vor all dem, was ich so gut überlegt habe. Trotzdem: Das ungleichzeitige Leben ist auch wichtig. Wenn ich zum Beispiel lange im Voraus meine Weihnachtsgeschenke überlege, habe ich nicht nur weniger Stress kurz vor Weihnachten, ich kann mich sogar selbst an den ausgesuchten Geschenken freuen. Oder ich kann auf das Konzert hinfiebern, für das ich schon lange im voraus die Karten gekauft habe. Oder mich schon auf den Sommerurlaub freuen, den ich vielleicht jetzt schon geplant habe. Ungleichzeitigkeit. Mit diesem Begriff hat der Theologe Johann Baptist Metz auch den christlichen Glauben gekennzeichnet. Ungleichzeitig ist er, weil er nicht allen Moden und Trends nachläuft, weil er sich aus ganz alten Quellen speist. Aber Ungleichzeitigkeit heißt mehr, als nur zurückblicken. Ungleichzeitig ist der Glaube auch, weil er nach vorne blickt. Eine Vision für das Leben in Zukunft entwirft, immer auf der Suche nach dem besseren, dem gelingenderen Leben ist. Glaube ist so doppelt ungleichzeitig: Immer verwurzelt und immer nach vorne wachsend. Ich finde deshalb den Begriff der Ungleichzeitigkeit spannend. Weil er deutlich macht: Leben geht nicht nur im Hier und Jetzt auf. Egal, ob mir das Leben gerade besonders schwer oder auch besonders leicht fällt: Ich kann immer zurück und zugleich nach vorne blicken. Ich kann mich vergewissern, was war. Und ich darf erwarten, was noch kommt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9339
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