SWR2 Wort zum Tag

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9. November. Schicksalstag der Deutschen. Novemberrevolution 1918, Hitlerputsch 1923, Reichspogromnacht 1938, Fall der Mauer 1989. Zumindest bei einem der Schicksalstage der Deutschen war ich dabei. Zwar nicht in Berlin, aber live am Fernsehen habe ich damals den Fall der Mauer verfolgt. Mich bewegen die Bilder bis heute - und sie traten mir wieder vor Augen, als ich vor wenigen Tagen zusammen mit meiner Familie in Berlin war. Dort, am Checkpoint Charlie, einem der alten Grenzübergänge zwischen Ost- und Westberlin, sind die Bilder von damals zu sehen. Jubelnde Menschen, Steinklopfer an der Mauer, hilflose Polizisten, niedergerissene Stacheldrahtzäune.
Ich habe unsere Kinder vor diesen Bildern beobachtet. All das, was da zu sehen ist, kennen sie nur vom Hörensagen. So wie ich ja auch all die anderen 9. November. Und unsere Kinder haben die Bilder am Checkpoint Charlie mit großem Staunen gesehen. Für sie war das einfach unglaublich, was dort zu sehen war. Vielleicht genauso unglaublich, wie für mich etwa die Pogromnacht 1938. Richtig verstehen, nachempfinden, mitfühlen, was damals passiert ist, das kann ich genauso wenig, wie meine Kinder nachempfinden können, was wir damals vor 21 Jahren gespürt haben, als die Mauer fiel. Und gerade deswegen ist es, glaube ich, wichtig, davon zu erzählen; in Deutschland immer wieder davon zu erzählen, was am 9. November alles passiert ist. Warum das wichtig ist? In der jüdischen Tradition gibt es einen guten Brauch. Am Pessachfest erinnern sich die Juden seit Jahrtausenden an ihre Befreiung aus Ägypten. Damals waren sie Sklaven, und dann bekamen sie mit Gottes Hilfe die Freiheit. Im Laufe ihrer Geschichte sind die Juden immer wieder versklavt, unterdrückt, an den Rand gedrängt oder verfolgt worden. Vielleicht gerade deshalb hielten sie die Erinnerung an ihre Befreiung aus Ägypten in Ehren. Beim Pessachfest ist es üblich, dass das jüngste Familienmitglied fragt: „Warum feiern wir diesen Tag?" Und das älteste Familienmitglied erzählt die Geschichte dieses Festes, erzählt von Versklavung und Befreiung. So wird von Generation zu Generation Erinnerung vererbt - und das Wissen darum, dass Vergangenheit und Zukunft zusammengehören. Das Wissen, wo man herkommt und was wichtig ist für die eigene Geschichte und die Geschichte aller. Wenn wir uns heute an den 9. November mit all seinen Jubelszenen und seinem Grauen erinnern, dann machen wir genau das: Wir erzählen uns vom lebensnotwendigen Erinnern. Ein Erinnern, aus dem erst Freiheit wachsen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9338
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