SWR2 Wort zum Tag

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Eine Essensgeschichte geht mir seit über zwanzig Jahren nach. Es war zu Beginn meines Studiums in Tübingen. Ich hatte gerade ein paar andere Theologen kennen gelernt, wir gingen zusammen in die Mensa. Die Prozedur kannte ich schon: Essensmarke holen, anstellen in der Schlange, Tablett nehmen, sich einen freien Platz erkämpfen. Wir hatten Glück und ergatterten sogar einen Tisch. Kaum saßen wir, fing einer zu beten an. Nicht laut, aber deutlich erkennbar. Mit Kreuzzeichen und gefalteten Händen und gesenktem Kopf. Ich fand das damals befremdlich, peinlich. Alle schaufeln sich hier nur das Essen rein - und der betet.
Bis heute bin ich unsicher, was das öffentliche Beten angeht. Ich mag es immer noch nicht, weil es so einen demonstrativen Charakter hat. Seht her, Leute, ich bete - und ihr? Andererseits finde ich es auch gut. Beten fügt dem gemeinsamen Essen einen wichtigen Aspekt hinzu: Gerade wenn ich esse, erlebe ich, dass nicht alles in meiner Hand ist, dass sich mein Leben anderen verdankt. Der Arbeit anderer Menschen, die alles zu meinem Essen beisteuern. Und auch der Schöpfung Gottes. So kann Beten beim Essen beides sein: peinlich und ausdrucksstark, befremdlich und aussagekräftig.
Beten beim Essen kann aber noch mehr. Es kann notwendig sein. Ein kurzes Gebet lautet: „Wir haben heute genug zu essen. Lieber Gott, mach, dass alle Menschen genug zu essen haben. Amen." Ein ganz und gar unspektakuläres Gebet. Und doch hat es dieser kurze Text in sich. Denn er hält Gott vor, was noch nicht heil und gut ist in der Welt: Andere hungern, andere haben immer noch zu wenig zum Leben. So ist Beten mehr als ein frommes Ritual am Tisch, mehr als ein besinnlicher Augenblick vor dem Heißhunger, mehr als Demonstration des Glaubens. Es erinnert uns und Gott, dass jedes Essen hier in unserem reichen Deutschland letztlich ein Skandal ist. Weil es daran erinnert, das viel zu viele Menschen nie an einem gedeckten Tisch sitzen, nie satt werden, vor lauter Hunger sterben. Sekündlich.
Der erste Impuls ist hier oft: Das hat mit Gott nichts zu tun. Das müssen die Menschen regeln. Die müssen teilen, fairer sein. Das stimmt grundsätzlich. Aber so wie ich beim Essen erlebe, dass ich auf andere angewiesen bin, so ist der Hunger auf der Welt nichts, was ich allein regeln kann. Wofür es andere braucht. Wofür wir uns gemeinsam stark machen müssen. Wenn ich in diesem Bewusstsein vor dem Essen bete, dann weitet das meinen Blick - über meinen Tellerrand hinaus.

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