SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Ich wusste, dass es mich Nerven kosten würde. Ich kenne Bilder und Erzählungen von Au-genzeugen. Und doch ist es etwas anderes, mit eigenen Augen zu sehen ... Auf einer Reise durch Südpolen habe ich das Konzentrationslager Auschwitz besucht. Es war ein eisig kal-ter Januartag. Ich habe mich gefragt, wie Menschen dort überhaupt einen Winter überle-ben konnten – ohne wärmende Kleidung, ohne nahrhaftes Essen, in kaum beheizten Bara-cken.
Unfassbar bleibt für mich, welche unwürdigen Zustände die gefangenen Männer, Frauen und Kinder hier erdulden mussten. Eigentlich weiß ich auch nicht, was ich für das größere Elend halten soll: dass Menschenleben in einer Gaskammer einfach ausgelöscht wurden oder dass Menschen unter qualvollen Bedingungen zu erniedrigenden Arbeiten gezwungen waren. Haben die Überlebenden am Ende die Toten beneidet?
Die Stimmung in unserer Reisegruppe ist beklemmend, während wir über das riesige Ge-lände geführt werden. Ich weiß nicht, ob ich reden soll oder schweigen zu dem, was ich hier sehe. Ich habe das Gefühl, jedes Wort könnte falsch sein, peinlich, sinnlos. Genauso peinlich und sinnlos aber auch mein Schweigen.
Was mich am stärksten berührt, ist einfach nur dies: an einem Ort zu sein, an dem Men-schen zu anderer Zeit unbeschreibliches Leid und einen grauenhaften Tod erfahren haben. Heute hier zu sein – in Freiheit. Kein tödlicher Zaun trennt die Innen- und Außenseite des Lagers mehr voneinander ab. Niemand führt Aufsicht. Die Wachtürme sind leer. Gaskam-mern und Verbrennungsöfen sind Ruinen. Die Bahngleise stillgelegt. Die Baracken verlas-sen. Niemand zwingt mich. Ich komme und gehe, wie ich will. Vor über sechzig Jahren ging von diesem Ort eine brutale, Leben zerstörende Gewalt aus. Die Opfer konnten sich nicht entziehen. Und viele werden heute noch in ihren dunklen Erinnerungen von den Schrecken verfolgt. Wahrscheinlich kann ich das wirkliche Leid, das vielen hier widerfahren ist, selbst nur schwer nachempfinden. Aber die Erinnerung kann ich wach halten.
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