SWR2 Wort zum Tag

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„Höchste Zeit, dass ich die Steuer mache", höre ich einen Freund sagen, und fühle mich selbst ertappt. Alle Jahr wieder dieses lästige Sammeln der Unterlagen, die Auflistung von Einnahmen und Ausgaben. Warum eigentlich gibt es eigentlich keine vergleichbare Instanz, die jährlich eine Liste der Dankbarkeiten einfordert? So jedenfalls fragt der Schriftsteller Max Frisch in seinem zweiten Tagebuch. Eine überraschende Frage. Gemeint ist ja gewiss nicht diese lästige Erwachsenenfrage aus Kindertagen: „Hast du auch Danke gesagt", oder gar: „Dankeschön"? Solch pädagogische Dressur hilft nur begrenzt. Nein: Freiwillig danksagen, von innen heraus - das ist eine Kunst, die der Pflege bedarf - und dazu braucht es eine eigene Instanz, die uns erinnert, meint der Schweizer Schriftsteller. Sonst bliebe der Alltag Grau in Grau, und das Schöne im Leben würde nicht genügend gewürdigt und geschmeckt. Vorschlagsweise stellt Max Frisch eine solche Liste zusammen. Eine Liste der Denkbarkeit. Er nennt einen Gönner, der ihm zum Studium geholfen hat, und dann gleich seine Mutter. Er erinnert sich dankbar der Armut, die er als Kind erfahren hat, und freut sich seiner leichtsinnigen Gesundheit, wie er sagt. Für mich überraschend und befremdlich bedankt er sich auch für den frühen Tod seines Vaters, als habe er dadurch mehr Freiheit bekommen. Dass er Kinder hat, ist ihm Anlass zum Dank und die Begegnung mit Frauen, die ihm nahe kamen. Seine Aufstellung ist noch viel länger, und vielleicht haben Sie beim Zuhören auch schon angefangen, für sich selbst solch eine Liste der Dankbarkeiten zu erstellen.
Zu denken gibt mir Max Frischs Schlussbemerkung: „Die Instanz gibt es nicht, die unsere Dankbarkeiten wissen will ...", so sagt er. Da stutze ich: Woher weiß er das? Ist die Erfahrung der Glaubenden nicht eine ganz andere? „Es ist würdig und recht, heilsam und notwendig, Dir zu danken, dem lebendigen Gott"....so heißt es im großen Lobgebet im Katholischen Gottesdienst. Da ist diese Instanz, die Max Frisch vermisst. Sie lädt zur Dankbarkeit ein. In den Tagebüchern von Elias Canetti steht der Satz: „Das Schwerste für den, der an Gott nicht glaubt: dass er niemanden hat, dem er danken kann." (Das Geheimnis der Uhr, Frankfurt a.M. 1990,126). Dann gehen nicht nur die Klagen ins Leere. Dann wissen wir auch nicht mehr, wohin mit unserem Glück. Sind wir dankbar genug? Wäre nicht gar fürs Dasein im Ganzen zu danken? Radikal notiert Simone Weil: „Der Schönheit der Welt keine Aufmerksamkeit zu schenken, ist vielleicht ein so großes Verbrechen der Undankbarkeit, dass es die Strafe des Unglücks verdient." Also denken wir an die Liste der Dankbarkeiten und nicht nur an die Steuererklärung.

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