Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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108 Jahre alt werden - das muss man erst mal schaffen. Und dann auch noch zufrieden bleiben. Eine Leistung. Das hat mich fasziniert. Und deshalb musste ich gleich zweimal in diese Ausstellung gehen. So sehr hat sie mich angesprochen. Im Mainzer Rathaus waren Portrait-Fotos von Deutschen ausgestellt, die 100 Jahre und älter sind. Frauen und Männer, bis zu 108 Jahre alt.
Faszinierende, ausdrucksstarke Gesichter. Ich habe sie voller Ehrfurcht angeschaut. In den Gesichtszügen hat ein ganzes, langes Leben seine Spuren hinterlassen: Die Augen, Falten auf Stirn und Wangen, der Gesichtsausdruck im Ganzen. In jedem Angesicht gab es viel zu entdecken und zu lesen. Wenn Menschen so uralt werden, dann bildet sich in ihrem Gesicht alles intensiver ab als bei Jüngeren, es kommt deutlicher zum Ausdruck, wie es um sie steht.
Die meisten haben einen zufriedenen Gesichtsausdruck gehabt. Ich habe mich gefragt: Was ist das Geheimnis, dass es einem Menschen in so hohem Alter gut gehen kann? Mein Eindruck: Dass er versöhnt ist mit seinem Leben, so wie es ganz konkret war und ist; dass er versöhnt ist mit sich selbst, wie er geworden ist. Damit er am Ende nicht sagen muss: „Der, der ich bin, grüßt traurig den, der ich gerne wäre."
Auch als Seelsorger bekomme ich mit: Je älter ein Mensch wird, je mehr Lebenszeit hinter ihm liegt, desto wichtiger wird die Aufgabe, dass er mit sich selbst versöhnt ist. Erst recht, wenn manches anders kam als erhofft. Schade, wenn jemand Altlasten mit sich herum schleppt: unverdaute Erfahrungen, Enttäuschungen, die ihn niederdrücken, die ihm die Hoffnung und Lebensfreude vergällen.
Mit meinen 54 Jahren bin ich gerade halb so alt die wie Ältesten in der Fotoausstellung. Ich habe hoffentlich noch ein paar Jahre vor mir. Ich möchte die vor mir liegenden Lebenschancen nutzen. Das kann ich umso besser, je mehr ich „Ja!" dazu sagen kann, wie mein bisheriger Lebensweg war und wie ich davon geprägt worden bin. Dann bin ich innerlich frei und offen für die konkreten Lebensmöglichkeiten, die Gott mir jeden Tag neu zuspielt.  

Die Fotoausstellung unter dem Titel „Jahrhundertmensch" zeigt Aufnahmen des Frankfurter Fotokünstlers Karsten Thormaehlen und wurde auf ihrer Reise durch Deutschland im Sommer 2010 in Mainz gezeigt. Im Internet kann man bei den Hinweisen auf Ausstellungsorte auch manche der Fotos sehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9182
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