Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ohne Sonntag gäbs nur noch Werktage. Der Sonntag ist ein Schatz, ein Geschenk des Himmels. Einmalig, wunderbar, unverwechselbar.
Trotzdem steht er auf der Liste der bedrohten Arten und Weisen unseres Lebens ganz weit oben.
Er verliert an Glanz und Würde. Dabei ist er doch ein Tag wie kein anderer. Auf dem Bauernhof meiner Kindheit war das unübersehbar:
Das hat man schon am Samstag gemerkt, wenn im Dorf um 3 Uhr am Nachmittag der Sonntag eingeläutet wurde, da mischte sich der betörende Geruch von Bohnerwachs und Streuselkuchen im Treppenhaus.
Irgendwie schien die Welt für einen Moment zumindest angehalten.
Futter für 2 Tage wurde rangekarrt. Gass und Hof wurden gekehrt, das Hoftor geschlossen.
Die ganze Mannschaft am Abend gebadet, gemeinsam ferngesehen. So etwas gab es nur am Vorabend, wenn der Sonntag kam.
Und am Sonntagmorgen dann wurden wir Kinder in Sonntagskleider gepackt.
Die Schuhe sind die besten Weglaufsperren gewesen, denn sie drückten gewaltig und ließen Herumtoben erst gar nicht zu.
Wir duften uns nach dem unantastbaren Sonntagskodex auf keinen Fall schmutzig machen, zumindest nicht vor dem gemeinsamen Kirchgang, und der wurde wie ein allgemeines Festellen der Vollzähligkeit gewertet.
War eine Familie nicht vertreten, so stand sie unter dem Verdacht über Nacht ausgewandert zu sein.
In der Kirche lief immer alles gleich ab. Und genau darauf kam es auch an.
Der Pfarrherr war würdig und recht die Institution zur wöchentlichen Bestätigung, dass wirklich und wahrhaftig alles so bleibt, wie es ist.
Männer und Frauen, Kinder und Presbyter saßen jeweils getrennt. Die meisten schliefen und genossen die Ruhe, die Jungs und Mädels flirteten und ritzen Namen und Herze und schoben damit den ersten Kuss auf die lange Kirchenbank.
Auf dem Heimweg wurde getratscht und gelacht, und bis man zuhause war, wusste man alles, was wichtig sein konnte.
Und das war nicht wirklich sehr viel.
Bald hat man auch schon den Sonntagsbraten gerochen, Rotkohl und Kartoffeln gab es dazu.
Und nach dem Spülen und Kehren und kurzen Verweilen wurden wir Kinder zum unvermeidbaren Sonntagsspaziergang aufgestellt.
Einer einzigartigen Art, sich fortzubewegen, ohne wirklich vorwärts zu kommen.
Wir sind dabei immer nur beinahe dem völligen Stillstand entgangen.
Wir sind nie wirklich weit gekommen, schon gar nicht bis zu dem versprochenen Ziel, wo es angeblich ein Eis oder eine Sinalco gegeben hätte, aber wir waren spaziert, durch Feld, Wald und Wiesen und zuhause wartete die Oma schon mit dem guten Marmorkuchen und dem duftenden Bohnenkaffee.
Und wenn es dann am Abend so merkwürdig melancholisch still wurde im Haus, haben alle gemerkt, wie schnell doch die Zeit vergeht, weil ja morgen schon wieder Montag ist. Ich weiß nicht, wie Ihr Sonntag heute aussehen wird und welche Erinnerungen sie haben, aber eines weiß ich bestimmt:
Ohne Sonntag, gäbs nur noch Werktage. Und das  wär ein Jammer. Darum wünsche ich Ihnen einen gesegneten Sonntag, wahlweise mit Sonntagskleidern, Flirt, Braten, Marmorkuchen und Oma und womöglich einem Platz auf der Kirchenbank.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9086
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