SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

In diesem Sommerurlaub verbrachte ich einige Tage auf der Halbinsel Höri am Bodensee - in einem kleinen Sommerhäuschen am Hang mit einzigartigem Blick über den See. Stundenlang saß ich da und ließ den Blick ins Weite gehen - bei schönem und bei schlechtem Wetter, morgens, mittags und abends. Ich war fasziniert von den Stimmungen, die der Landschaft immer wieder einen anderen Charakter gaben, und von dem vielfältigen Wechselspiel der Farben. Es gab Stunden, da lag der See still da, und doch war die Wasserfläche in ständiger Bewegung mit immer neuen Mustern, Strömungen und Abstufungen. Das weiche Licht der Spätsommersonne modellierte die Bäume am Rand des nahen Ufers mit kontrastreichen Schatten und legte über die Höhenzüge in der Ferne einen feinen Schleier. Es gab auch Stunden, an denen von Westen her immer wieder dunkle, ungestüme Wolkenformationen und heftige Regenschauer herüber  zogen, das aufgewühlte Wasser grau und schwarz färbten und den Horizont verbargen. Und dann konnte es sein, dass unter dunklem, grau-blauem Himmel plötzlich die Abendsonne durchbrach und Ufer, See und die fernen Hügelketten in goldenes Licht tauchten. Ein wunderbares Schauspiel.

Was mich an dem Blick über den See so fasziniert, ist die Weite. Vielleicht ist die Weite eine Ursehnsucht des Menschen. Vielleicht gehört es zu den tiefsten Hoffnungen des Menschen, ins Weite zu sehen und ins Weite zu gehen. Ins Weite sehen heißt, den Blick über das Alltägliche, über Verpflichtungen und Sorgen hinaus  zu richten. Ins Weite gehen heißt, das vordergründig Nahe, das Hier und Jetzt zu überwinden, das uns so oft gefangen hält und unsere Schritte lähmt.

Das Gegenteil der Weite ist nicht die Nähe, sondern die Enge und die Angst. Beides ist miteinander verwandt. Enge macht Angst und Angst macht Enge. Es gibt vieles, was uns hindert, uns der Weite anzuvertrauen. Es kann uns ängstigen, wenn der Horizont verhangen ist und wir kein Ziel sehen. Es kann aber auch sein, dass uns das Unvorhersehbare den Atem raubt, dass wir den Weg ins Offene und Unbekannte fürchten. Es ängstigt uns, wenn sich der Blick im Unendlichen verliert, das wir nicht planen und über das wir nicht verfügen können. Die Angst macht uns eng und lässt uns festhalten am Greifbaren,  Bekannten und Vertrauten. Das gibt uns scheinbare Sicherheit. Und doch ahnen wir im Weiten, im Offenen, im Unverfügbaren etwas vom Sinn unseres Lebens. Die Weite ist ein Zeichen der Freiheit.

Lange schon ist mir ein biblisches Gebet, ein Psalm, sehr wichtig: "Du, Gott, führst mich hinaus ins Weite", heißt es da. Und: "Du schenkst meinen Schritten weiten Raum."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9053
weiterlesen...