SWR2 Wort zum Tag
SWR2 Wort zum Tag
Wer oder was ist noch verlässlich? Wo finde ich, was beständig ist? Wohin gehöre ich selbst? Wenn ich das Gefühl habe, dass alles in Bewegung ist, dass sich Bindungen und Traditionen auflösen, dass auch Beziehungen zwischen Menschen kurzatmiger werden, dann will ich wissen, was verlässlich ist, was dauert und bleibt im ständigen Wandel.
In früheren Zeiten war es die stabilitas loci, die Ortsgebundenheit der Mönche in ihren Klöstern, die im Getriebe und Geschiebe der vielen Völkerwanderungen einen Ruhepol bildete. Heute, denke ich, sind es die Kirchen als Gebäude, die wie magnetische Anziehungspunkte wirken in einer hochmobilen Gesellschaft.
Sie bieten nicht nur Orientierung im Sinne ihrer Ausrichtung zum Orient, dorthin, wo die Sonne aufgeht. Sie bilden im Netzwerk von Straßen und Plätzen markante Punkte, die sich städtebaulich abheben von der restlichen Umgebung.
Vor allem: sie sind verbunden mit sehr persönlichen Lebensgeschichten. Bei Geburt und Tod, wenn Hochzeiten zu feiern sind oder öffentlicher Trauer Ausdruck gegeben wird, bilden sie den Rahmen. Unzählige Geschichten wissen sie und jeden Tag nehmen sie neue Geschichten in sich auf.
Mir geht es so: in welche Stadt oder in welches Dorf ich auch komme - in der Kirche, gleich ob Dom oder Dorfkirche, finde ich Erinnerungen und Geschichten, an die ich anknüpfen kann. Hier in der Kirche bin ich gleich ein bisschen weniger fremd.
Den Dichter Manfred Hausmann hat diese Verlässlichkeit und Geborgenheit, die eine Kirche ausstrahlt, angezogen. Er hat dazu ein Gedicht geschrieben mit der Überschrift „Trost":
„Ich möchte eine alte Kirche sein voll Stille, Dämmerung und Kerzenschein. Und wenn du trübe Stunden hast, geh nur herein zu mir mit deiner Last! Du senkst den Kopf? Die große Tür fällt zu. Nun sind wir ganz alleine - ich und du. Ich kühle dein Gesicht mit leichtem Hauch und hülle dich in meinen Frieden auch."
Ein schöner Gedanke: ich komme zur Ruhe, in dem ich mich von der Atmosphäre dieser Kirche umfangen lasse. Indem ich höre und sehe, was in ihr an Geschichten und Lebenserfahrung aufbewahrt ist. Vielleicht auch: indem ich ihr meine eigene Geschichte anvertraue.
Ich spüre dabei: Kirchen sind Inseln im Fluss der Zeit. Sie lehren mich, auf das zu achten, was bleibt, was verlässlich ist und beständig. Sie schenken mir Frieden, den ich weiter geben möchte.