SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Warten Sie gerade auf jemanden oder etwas? Vielleicht auf einen Besuch, der sich für heute angekündigt hat? Oder auf einen Handwerker? Warten Sie irgendwo im Stau oder vielleicht im Wartezimmer eines Arztes?
Warten kann unangenehm sein. Warten - das ist oft eine aufgezwungene Verlangsamung unserer Aktivität, ein lästiges Abbremsen der schwung­vollen Bewegung, in der wir uns gerade befinden.
Ich finde, das Urteil über das Warten ist - in dieser Allgemeinheit - un­gerecht. Denn wir messen mit Maßstäben, die unserem aktiven, manchmal hyperaktiven Leben entnommen sind. Es gibt noch andere Maßstäbe. Sie lassen uns im Warten eine Zeitform entdecken mit ganz eigenem Charme.
Es gibt nämlich ein Warten, das die Gegenwart nicht möglichst schnell
überspringen will, sondern ihr zugewandt bleibt. Dann entdecke ich in der Oberfläche der bleiernen Wartezeit winzige Risse. Spielräume freier Zeit, hinter denen sich neue Möglichkeiten andeuten.
Ein solcherart qualifiziertes Warten zeichnet viele biblische Gestalten aus. Sie warten, weil sie wissen, dass das volle Leben sich in der aktuellen Gegenwart noch lange nicht erschöpft. „Meine Seele wartet auf Gott mehr als die Wächter auf den Morgen", sprechen sie mit Worten eines alten Psalms. Oder: „Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit". Ja sogar: „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt."
Das ist ein Warten, das nicht darauf gerichtet ist, dass die verlangsamte Gegenwart so schnell wie möglich in die ausgefahrene Spur der Routine zurückfindet. Es hofft vielmehr darauf, dass in der Gegenwart, im jetzigen Augenblick, Gottes Zuwendung spürbar wird. Etwas, das die Seele er­frischt wie der junge Morgen.
Ein solches Warten ist aktiv und spannungsreich. Es ist wachsam und auf­merksam für Menschen und Momente. Es lotet die Chancen des Augen­blicks aus, um die zarten Anfänge zu finden, die sich entfalten wollen.
Vielleicht entdecke ich dann in der Warteschlange ein Gesicht, das mich ansieht oder einen Menschen, der mich anspricht. Vielleicht öffnet mir das lästige Warten in einem Wartezimmer gerade den Zeitraum, um einen Gedanken fortzuentwickeln, für den bislang keine Zeit da war.
Warten als Zeitraum für Muße und Kreativität - das lässt mich weniger verdrießlich sein, wenn ich heute morgen oder im Laufe des Tages wieder einmal warten muss. In der begründeten Hoffnung, dass aus Langeweile gute Weile wird - reich an schöpferischen Eingebungen und Einfällen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9000
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