SWR2 Wort zum Tag

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Religion war bis vor Kurzem noch wie ein geräumiges, wohl geordnetes Haus, in dem die Völker mit ihren religiösen Systemen und Institutionen festen Wohnsitz hatten. Heute - so kommt es mir vor - hat sich diese riesige Wohngemeinschaft aufgelöst. Gruppen und einzelne Menschen haben sich Hütten und Zelte gebaut, bewegliche Wohnstätten, dort, wo es ihnen gefällt und in der Art, wie sie es für richtig halten. Das große Haus „Religion" gibt es kaum mehr, dafür viele individuelle religiöse Bleiben: so viele fast wie Menschen und Gruppen. Religiöses Leben und Handeln setzt die persönliche Entscheidung des einzelnen voraus wie niemals früher vielleicht.
Das zeigt sich unter anderem auch an der Art und Weise, wie wir mit Tod und Sterben umgehen. Heute ist oft schon dafür, dass ein Mensch sterben darf, ein ganzer Prozess persönlicher Entscheidungen notwendig. Die Medizin, die dem Leben dient, ist soweit fortgeschritten, dass das Ende eines Lebens immer noch aufgehalten werden kann. Dabei kommt es immer häufiger zu Situationen, in denen einzelne, seien es Ärzte oder Angehörige, schwere Entscheidungen zu treffen haben.
Auch die Bestattung des Verstorbenen ist heute deutlich von individuellen Vorstellungen geprägt. Während früher die Bestattung in der Erde feststand, bestimmen viele Menschen heute selbst, welchem der Elemente ihr vergänglicher Körper anvertraut werden soll: der Erde, dem Feuer, der Luft oder dem Wasser - und wie das Gedächtnis des Toten bewahrt werden soll.
Am sichtbarsten wird der Einfluss der individuellen Entscheidung an der Art und Weise deutlich, wie der Abschied vom Toten gestaltet wird. Bis vor kurzer Zeit stand für Christen außer Frage, dass ein Pfarrer nach einem bestimmten unveränderlichen Ritual die Beerdigung feierte. Heute geschieht es - auch unter Christen - mehr und mehr, dass diejenigen, die Abschied nehmen, zuvor schon mit dem Verstorbenen Texte, Lieder, symbolische Gesten überlegt und ausgewählt haben. Es gibt eine Vielfalt religiöser und bewusst nicht-religiöser Optionen. Sie wird gerade darin deutlich, dass auch immer mehr andere Formen von Beerdigungs- und Abschiedsfeiern gewählt werden - mit weltlichen Liedern etwa oder mit höchst persönlichen Texten und Gesten, die auf das Leben des verstorbenen Menschen Bezug nehmen.
Diese zunehmende Individualisierung religiöser Gesten kann befremden. Unübersehbar ist aber auch, dass viele Menschen sich persönlich mit Sterben, Tod und Abschied auseinandersetzen, und das verdient zuallererst unseren Respekt.  

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8958
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