SWR2 Wort zum Tag

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Die „Kultur des Rufens". Ich habe sie kennen gelernt im Leben der französischen Kirche in Poitiers. An dieser Kultur des Rufens liegt es, dass Leute in Gemeinden und Pfarreien mit mehr Lust mitmachen, weil sie es mit großer Freiheit tun.
Rufen und Freiheit, das scheint zusammenzugehören. Nur, wer gerufen wird, ist frei zu antworten. Ohne dass er oder sie gerufen oder gebeten oder einfach angesprochen wird, ohne ein Wort, das an einen ergeht, kann niemand in sich das eigene Wort, eben die Ant-Wort entdecken. Wer einen Menschen ruft, schenkt ihm oder ihr die Freiheit zu antworten.
Genau das finden wir unzählige Male in der Bibel. Der erste, der da gerufen wird, Adam, versteckt sich sogar - vielleicht aus Angst vor der Freiheit des Antwortens, die ihm zugetraut wird. Gott ruft. Davon spricht die Bibel immer und immer wieder. Die Bibel erzählt auch, in wie vielfältiger Form die Gerufenen geantwortet haben: manche möchten lieber nicht antworten, andere sind tief erschrocken, viele zögern, sagen zum Teil auch Nein, und immer wieder ist die Antwort auf den Ruf ein staunendes Ja. In der Bibel fordert es der rufende Gott geradezu heraus, dass Menschen auf seinen Ruf ihre eigenen Antworten finden. Dass dieses Antworten nicht unbedingt der Erwartung, dem Wunsch, den Plänen dessen, der ruft, entspricht, scheint nicht nur in Kauf genommen, sondern gewollt zu sein. Die Freiheit, die das Rufen schenkt, ist die Freiheit, mehr ich selber zu werden. Vielleicht kann man das schon bei Abraham in diesem Sinne verstehen: Gott ruft ihn, aus seiner Heimat wegzuziehen und verheißt ihm gleichzeitig ein neues Land. So gibt er Abraham die Freiheit, aufzubrechen, seine Bestimmung zu entfalten und so mehr er selber zu werden.
Es gibt Freiheit also nicht außerhalb der Beziehung, in der sie mir geschenkt wird. Es gibt Freiheit aber auch nicht, ohne dass Wünsche, Pläne, Ordnungen durchkreuzt werden.
Wer einen anderen ruft, riskiert, enttäuscht zu werden, aber auch Überraschungen kann es geben. Neues lässt sich entdecken. Diese Ungewissheit ist wohl einer der Gründe, weshalb das Rufen in unseren Kirchen so selten geworden ist, dass wir es erneut als eine „Kultur" zu pflegen haben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8957
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