SWR2 Wort zum Tag

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„Wenn die Propheten einbrächen / durch die Türen der Nacht / und ein Ohr wie eine Heimat suchten- / Ohr er Menschheit / du nesselverwachsenes, / würdest du hören?" Diese Frage ist über 60 Jahre alt. Kurz nach dem 2. Weltkrieg wurden die ersten Gedichte von Nelly Sachs bekannt. Selbst gerade noch aus Nazideutschland gerettet, ist es jetzt die Sprache, in der sie Verlorenes zu retten versucht. Nicht zufällig erinnert die deutsche Jüdin an die Propheten Israels, an mutige Menschen also, die sich im Glauben an Gott mit dem bestehenden Desaster nicht abfinden und nach Alternativen suchen. Dazu aber muss Unrecht beim Namen genannt werden, dazu muss Gewohntes und Gewöhnliches schmerzhaft verändert werden, „durchschmerzt", sagt Nelly Sachs. Aber wer wagte sich schon an diese Trauer und Reue, wer hätte den Mut zu genauer Erinnerung und Auseinandersetzung?
„Wenn die Stimme der Propheten / auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder/ blasen würde,/ die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfte/ ausatmete- / wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzern/ baute -/ Ohr der Menschheit / du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes, / würdest du hören?" Gedichte nach Auschwitz - sie müssen Mord und Totschlag beim Namen nennen, sie müssen der ermordeten Kinder und Alten gedenken. In dieser „Landschaft aus Schreien" ist Dichtung immer nah am Klagegebet, am Stöhnen und Seufzen. Denn ohne Erinnerung keine Zukunft, ohne Auseinandersetzung mit dem falschen Bestehenden keine Hoffnung. Dichter und Propheten sind Menschen, die sich beunruhigen lassen und beunruhigen, im Namen Gottes und des wahren Lebens. Sie geben sich mit dem kleinen Lauschen nicht ab. „Mit ihren Worten Wunden reißend / in die Felder der Gewohnheit" müssen sie, selbstverletzt und beunruhigt, Ursachen benennen, Täter und Täterinnen, im Namen der Opfer, für eine bessere Zukunft.
Gottseidank sind hierzulande die Zeiten anders als damals vor mehr als 60 Jahren. Viel Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit wurde seitdem geleistet, auch dank Nelly Sachs. Angesichts all der Gewalt- und Leidensgeschichten auch heute bleibt freilich die Schlussfrage ihres Gedichts aktueller denn je: „Wenn die Propheten aufständen/ in der Nacht der Menschheit/ wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,/ Nacht der Menschheit/ würdest du ein Herz zu vergeben haben?"

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