SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Vor 40 Jahren ist ihre Stimme erloschen. Die deutsche Jüdin starb im schwedischen Exil, in Stockholm. Ich spreche von Nelly Sachs, in Berlin behütet aufgewachsen und dann in den nationalsozialistischen Terror geraten. Am 16. Mai 1940 konnte sie zusammen mit Ihrer Mutter gerade noch nach Schweden entkommen. Dort ringt sie noch 30 Jahre lang dem Schrecken der Shoah ihre Gedichte und Dramen ab. Zeitlebens trauert sie um ihren Geliebten, vernichtet von den Nazis und im Dunkel der Geschichte nie mehr zu erreichen. Immer wieder steht sie in der Gefahr, förmlich verrückt zu werden; des öfteren bedarf sie psychiatrischer Behandlung.
Immer wieder bezieht sich Nelly Sachs in ihren Gedichten auf biblische Gestalten, auf jüdische Mystik auch. In der Geschichte von Jakobs Gotteskampf findet sie das eigene Schicksal wieder, das Geschick Israels. „O Israel / Erstling im Morgengrauenkampf / wo alle Geburt mit Blut / auf der Dämmerung geschrieben steht. / O das spitze Messer des Hahnenschreis / der Menschheit ins Herz gestochen, / o die Wunde zwischen Nacht und Tag / die unser Wohnort ist!" So beginnt eines Ihrer Jakob-Gedichte. „Morgengrauenkampf" - alle Metaphern haben einen doppelten Boden, sind brüchig wie die Realität selbst. „Morgengrauen" - das meint zunächst doch einfach nur der Übergang in einen neuen Tag, heute Morgen zum Beispiel. Hier aber ist es auch das Grauen über die Vernichtung der Juden und die Gewalt von Menschen über Menschen. Und das Blut der Geburt der Geburt ist zugleich das Blut des Menschenmords, des millionenfachen. Und der Hahnenschrei ist eben nicht nur die lebenslustige Begrüßung des neuen Tages durch die krähende Kreatur, es ist das Zeichen des Verrates. Nichts von Selbstmitleid, nichts von Hass oder Rache, wohl aber Klage und Schrei angesichts der leidenden Kreatur überall, „der Menschheit ins Herz gestochen". Was ihr geschah, was so vielen Juden geschah, es betrifft alle.
Jakob, der Stammvater, hatte im Kampf mit Gott den Ehrennamen Israel bekommen: Gotteskämpfer. Auch in der dunkelsten Nacht lässt er nicht von seinem Gott, er kämpft mit ihm, bis er ihn segnet. Dieser Jakob ist für Nelly Sachs zum Realsymbol geworden für das Geschick Israels insgesamt, für das Geschick der leidenden Menschheit. Jakob damals hatte es geschafft, „selig entbunden" in den Morgen eines neuen Lebens hinein, zwar angeschlagen, aber gesegnet. In ihm, dem Stammvater, ruft die klagende Dichterin einen neuen Morgen auf, ohne das schreckliche Grauen - einen gesegneten Morgen.

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