SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Mit „Mattina", also mit „Morgenfrühe", ist eines der kürzesten Gedichte überschrieben, und eines der schönsten, von Guiseppe Ungaretti. Zwei Zeilen nur: „ ich erleuchte mich/ durch Unermessliches". Im Original: "Mattina // M'illumino / d'immenso." Im Italienischen kommen diese Verse daher wie Rhythmus und Musik, nur Vokale bestimmen den Ton. Ich denke an das Zwitschern von Vögeln, an den Sonnenaufgang, an gute Energie in mir und um mich herum. „M'illumino / d'immenso"- ich lasse mich erleuchten durch Unermessliches. Da ist etwas Größeres, in dem ich mich immer schon vorfinde - nennen wir es Leben, nennen wir es Atem, nennen wir es Licht. Mit mir geschieht etwas, was größer ist als ich.
Nichts ist überraschender als das Selbstverständliche, jedenfalls bei Licht besehen. Dass jeden Morgen die Sonne aufgeht, bleibt erstaunlich genug, auch in Zeiten künstlicher Beleuchtung. Früher wusste man das elementarer: jedes Verschwinden der Sonne am Abend war eine Katastrophe, jede Nacht bedeutete auch ein Stück Tod - immer mit dabei die bange Frage, ob sie es schafft, die göttliche Sonne, am nächsten Morgen wieder hoch zu kommen und mit ihrer Ausstrahlung das Leben zu ermöglichen. „Ex oriente lux", heißt der alte Spruch: - auch das vermeintlich ganz selbstverständlich: „im Osten geht die Sonne auf". Weil im Orient die Sonne aufgeht und ein Horizont entsteht, können wir uns orientieren. Sonne und Licht sind eben mehr als Vorgänge in der Natur, sie ermöglichen den Rhythmus des Lebens, sie ermöglichen „Erleuchtung", wie der Dichter sagt, Klarheit innen und außen, Klärung von Problemen, Aufklärung. Was seit alters fasziniert: das Licht ist das, wodurch wir sehen, und es ist das, was wir sehen. So immens ist das, so überwältigend, dass uns beim Blick in die Sonne schwarz wird vor den Augen .
„In deinem Licht sehen wir das Licht", heißt es in den Psalmen Israels (36,10). Seit uralten Zeiten ist die Sonne ein Symbol Gottes: er ist das Licht, das sich gerecht verteilt und uns einander sehen lässt, auch im Schatten. „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf in unserer Zeit;, singen wir Christen aus gutem Grund. Und der Apostel Paulus schreibt: „Gott ist in unseren Herzen aufgeleuchtet auf dem Angesicht Christi..." (2 Kor 4,6) Was also jeden Morgen in der weiten Schöpfung geschieht, das geschieht Paulus in der Entdeckung Jesu. Was Tag für Tag von der Sonne ausgeht, das geht für Paulus von Jesus aus: eine wohltuende Ausstrahlung, eine lebensstiftende Wärme, eine berührende, ja zärtliche Nähe. Nichts war für Paulus umwerfender als das, nichts unermesslicher, nichts immenser. Jeder Morgen wird dann ein Stück Ostermorgen, jeder Morgen ein Stück neuen größeren Lebens. „Mattina // M'illumino / d'immenso"

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8835
weiterlesen...