Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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13MRZ2007
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Zunächst unbekümmert lese ich auf einer Zugfahrt nach Berlin im letzten Jahr ein Buch. Der Titel: „Der letzte Zug“. Spannend, reich an Ideen und dann merke ich – er bringt mich ganz tief mit Leben und Leiden der Juden in Berlin in Kontakt.
Und ich entdecke viele Anknüpfungspunkte zwischen dieser Geschichte und meinem eigenen Leben. Sechs Jahre hatte ich selbst in Berlin gelebt. Habe selbst an dem Bahngleis gestanden, von dem das Buch spricht. Gleis Nummer 17, Bahnhof Grunewald. Heute ist das ein Denkmal für die vielen Züge, die mit Juden und anderen in die Konzentrationslager gefahren sind.
Das Buch erzählt von einem Zug der am 19. April 1943 nach Auschwitz startet. Es ist der Tag meines Geburtstages. Zugleich der Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
So verbinden sich durch ein Datum Vergangenheit und Gegenwart.
Das Buch hat mich an die Geschichte Deutschlands erinnert. Und das konkrete Datum hilft mir, sich der Wahrheit zu nähern.
Ich ertappe mich dabei, dass ich wieder einmal fast die Geschichte der Judenvernichtung in Deutschland vergesse. Doch ich merke: Wenn sie manchmal ins Dunkel der Erinnerung absinken, die damit verbundenen Greueltaten, in einem anderen Moment wird die Geschichte wieder wach. Ich erlaube mir beides: Immer wieder die Geschichte unseres Landes und die unzähligen Opfer zu vergessen – und mich immer wieder neu, wie an meinem Geburtstag, mit dem Thema konfrontieren zu lassen. Ich glaube, beides gehört in das Leben.
Für mich ist das vergleichbar mit der Geschichte vom barmherzigen Vater in der Bibel. Auch er erinnert sich und vergisst zugleich. Er erinnert sich leibhaftig an seinen jüngeren Sohn. Aber er vergisst auch: Dieser Sohn hat alles durchgebracht, das Erbe, den halben Besitz. Beides zusammen – Erinnerung und Vergessen – ermöglicht einen Neuanfang.
Ich brauche beides – Erinnerung und Vergessen – am 19. April 2007 wird mir dies wieder ganz deutlich bewusst werden.


Hinweis: Bernd Philipp/ Renate Wiechmann: Der letzte Zug, Aufbau Taschenbücher Bd.2311, Berlin 2006.

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