Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Wie kann man das- jemandem vergeben, der einem Übles getan hat? Das habe ich von Lea gelernt. Lea ist Jüdin und ihre Eltern haben das KZ überlebt. Nie haben sie davon erzählt, sagt Lea, aber es lebte in allem. Wenn Lea als Kind nach Hause kam, wusste sie nie: Soll ich klingeln? Soll ich die Tür aufschließen? Soll ich rufen? Egal was sie tat. Die Eltern sind immer zu Tode erschrocken.
Wenn ich mein Leben davon abhängig mache, ob mir Gerechtigkeit widerfährt, sagt Lea, das ist so, wie wenn ich mich mit dem Täter an unseren Unfallort festkette. Ich will aber frei sein. Und deshalb gibt es keinen anderen Weg als zu vergeben.
Heute vor 60 Jahren wurde in Frankfurt der Zentralrat der Juden gegründet. Ganz unspektakulär in einer Privatwohnung. Damals lebten gerade noch 15 000 Juden in Deutschland. Und jeder hatte Bruder, Vater, Tante oder Cousine im KZ verloren. Jeder wollte eigentlich auswandern. Aber manche blieben doch. Weil Deutschland nun mal ihre Heimat war.
Von Lea habe ich gelernt: Vergeben ist der einzige Weg, wenn man leben will. Weil es oft eben keine Genugtuung für erlittenes Unrecht gibt. Weil es oft nicht gelingt, Beziehungen wieder gut zu machen. Sieben mal siebzig mal sollst du vergeben, hat Jesus gesagt. Also unendlich oft.
Aber wie geht das- die Ketten abwerfen, die einen an seinen Gegner und an seinen Unfallort fesseln?
Aus Gesprächen mit Naziverbrechern weiß Lea: Nicht nur das Opfer- auch der Täter ist von seiner Tat gezeichnet. Auch ihn hat die Tat um ein Stück seiner Menschlichkeit gebracht. Auch er ist darunter erstarrt.
Als Opfer ist man frei, den Unfallort zu verlassen, meint Lea. Wenn man Abschied davon nimmt, Genugtuung zu erfahren. Wenn man nicht nur auf die Gerechtigkeit setzt, die man hier in der Welt bekommt. Wenn man der Gerechtigkeit, die Gott schaffen einmal wird, auch etwas zutraut.
Lea hat sich entschieden, von der Rolle des Opfers Abschied zu nehmen. Zu verzichten auf Wiedergutmachung. „Jeden Tag, sagt sie, bin ich verantwortlich für mein Leben. Gott hat es mir geschenkt, dass ich etwas Gutes daraus mache."

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