Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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In diesen Tagen muss ich immer wieder staunen. Der Morgentau liegt auf den Wiesen, die Sonne schimmert durch die Bäume, die Luft ist kühl. Ein Sommertag. Ich bin auf dem Fahrrad unterwegs, und kann an diesem Morgen nichts anderes, als staunen. Ich denke: Wahnsinn, wie unglaublich diese Welt ist!
Ich staune und bisweilen staune ich auch, dass ich staunen kann. Staunen heißt: Ich nehme nicht alles für selbstverständlich. Ich glaube, das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft: sich über sich selbst und seine Welt zu wundern und darüber zu staunen.
Im Staunen passiert aber etwas Ungewöhnliches. Wer staunt, tritt aus sich selbst heraus, verlässt den üblichen Blickwinkel. Und kann dann sehen, dass die Welt groß, reich, einfach unglaublich ist.
Staunen fängt an, wo Menschen richtig sehen. Und die Welt richtig, die Welt ganz tief anzusehen, heißt, sie mit den Augen Gottes anzuschauen. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel erzählt davon. Am Ende eines jeden Schöpfungstages heißt es dort: „Und Gott sah, dass es gut war." Da hab ich fast das Gefühl, dass Gott selbst über seine Schöpfung staunt. Eine Schöpfung, für die er sich immerhin sieben Tage Zeit nimmt. Ganz schön viel, wenn man ein Gott ist. Ich deute das so, dass die biblischen Autoren Gott als einen aufmerksamen und liebevollen Gott verstehen. Einer, der nicht mal aus Langeweile zwischen Mittagessen und Kaffee eine Welt schafft, sondern ein Gott, der an der Schöpfung interessiert ist, der an jedem einzelnen Geschöpf interessiert ist. Das ist allerdings zum Staunen, aber von ganz anderer Art als das Staunen über die Natur und die Welt. Es ist das Staunen, dass ich als Mensch wirklich gewollt und angenommen bin.
Es gibt eine schöne Geschichte, die das Staunen über dieses Angenommen-sein ausdrückt. Ein Mann kommt immer wieder in die Kirche - und sitzt einfach nur da. Ein Priester beobachtet ihn - und hält es schließlich nicht mehr aus. Er fragt den Mann, was er da die ganze Zeit macht. Der antwortet: „Ich schaue Gott an und lasse mich von ihm anschauen."Staunen geht nur, wenn ich etwas genau ansehe. Wie schön das ist, spüre ich am eigenen Leib, wenn ich bemerke: Da sieht mich jemand, da werde ich bemerkt.

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