SWR2 Wort zum Tag

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„Stark wie der Tod" heißt ein Roman von Guy de Maupassant. Ein biblischer Titel, denn im Hohen Lied Salomons heißt es: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, so dass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen können."
Lange hat Maupassant gezögert, bis er seinem Roman diesen biblischen Titel gab: „Stark wie der Tod". Denn die Liebe, von der hier darin Rede ist, ist keine „normale" Liebe, keine, die vor dem Traualtar gesegnet wurde.
Maupassant erzählt darin die Geschichte des erfolgreichen Pariser Malers Olivier Bertin, der seit über zehn Jahren der Geliebte Anys, einer verheirateten Frau, ist. „Das schönste Beispiel einer Liebe im neunzehnten Jahrhundert", nannte er manchmal ein wenig selbstironisch ihre so lange andauernde Liaison. Any, Gräfin und Gattin eines Abgeordneten, ist um die vierzig, damals ein reifes Alter, und immer noch sehr schön. Sie treffen sich, wann immer sie es einrichten können. Über all die Jahre hatte sich die heiße Liebe der ersten Zeit in eine „ruhige, tiefe Zuneigung verwandelt, eine Art verliebter Freundschaft."
Doch alles ändert sich, als die 18jährige Annette, Anys Tochter, in Paris eintrifft. Bertin kannte sie als kleines Mädchen und entdeckt nun überrascht die große Ähnlichkeit von Mutter und Tochter. Das Bild der Tochter verschmilzt vor seinen Augen mehr und mehr mit dem Bild, das er von ihrer Mutter, zu Beginn ihrer Liebe, gemalt hatte. Any merkt, dass ihr nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit des Geliebten gilt. Mit einem Male spürt sie, wie altert. Sie erlebt, dass ihr Geliebter, ohne es zu wollen, sich in eine leidenschaftliche und aussichtslose Liebe verstrickt. Aussichtslos, denn auch Bertin wird mit seinen über 50 Jahren müde und schwerfällig. Leidenschaftlich, denn er weiß sich nicht zu retten. Er fühlt sich wie ein „brennendes Haus den Flammen ausgeliefert". Nach einem Unfall stirbt er in den Armen seiner alternden Geliebten. Aber sein letzter, unerfüllter Wunsch bleibt es, noch einmal die schöne, junge Tochter zu sehen.
Stark ist die Liebe wie der Tod. Nichts, aber auch gar nichts, kann sie löschen. Im Hohenlied Salomons steht weder etwas von einem zulässigem Höchstalter für Liebende noch etwas von Standesamt und Traualtar. Das Hohelied attestiert der Liebe ein gehöriges Zerstörungspotential - und doch bleibt sie eine „Gabe des Herrn". Eine, die so seltsam ist, dass wir niemals aufhören werden, darüber nachzudenken, zu reden und an einem heißen Sommertag Bücher zu lesen, die darüber geschrieben wurden.

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