Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Gegen Angst und Ungewissheit hilft nur reden 

Die Warterei ist das Schlimmste. Du weißt, irgendwann fällt das Damokles-Schwert, aber du weißt nicht wann. Und du weißt nicht, wie schlimm es dich verletzen wird. So beschreibt mir ein Patient im Krankenhaus seinen Gemütszustand. Menschen gehen zum Arzt wegen irgendwelcher Beschwerden, dann macht der Arzt plötzlich ein sorgenvolles Gesicht, überweist zum Spezialisten, der überweist ins Krankenhaus. Im Krankenhaus werden weitere, endlose Untersuchungen angeordnet. Der Mensch fühlt sich wie bei einer Prüfung: Und schon sehr früh fürchtet der Patient der Feind könnte  „Krebs"   heißen und wäre bösartig und hätte schon gestreut und der Tod schleiche ums Haus. Solche Gedankenketten lassen sich nicht abstellen und es lebt sich schlecht in der Erwartung des Damokles-Schwertes. Damokles lebte  im 4. Jahrhundert vor Christus. Er war ein Diener am Hof des Königs, war aber neidisch auf die Bessergestellten; deshalb hat sein König einen Tag mit ihm die Rollen getauscht. Damokles saß an der königlichen Tafel und wurde fürstlich bedient, aber über seinem Kopf hing an einem Pferdehaar ein Schwert, das ihn jederzeit erschlagen konnte.
So fühlt es sich an, wenn man auf eine Diagnose wartet. Wenn das Schreckliche wahr geworden ist, kann man sich irgendwie zurecht finden, aber wenn man noch darauf wartet, dann quält die Ungewissheit.
Was kann da helfen, die Wartezeit zu überstehen? Sich bewegen - aber die Gedanken gehen mit. Sich ablenken - aber das funktioniert nur kurze Zeit. Sich mit den Problemen anderer befassen - das kann klappen, aber oft hat man mit den eigenen Problemen grade genug zu tun.
Das Einzige, was hilft, ist: Die Ungewissheit in Worte fassen. Darüber reden: wieder und wieder. Mein Patient kam jeden Tag. Er sagte immer wieder die gleichen Dinge, neue Meinungen von Ärzten, Ratschläge von Bekannten, eigenes Überlegen...bei unseren Gesprächen kam nie etwas Neues zutage, aber sie erleichterten den Patienten. Wie aus einer Eiterwunde kamen die Gedanken raus und quälten dann erst mal etwas weniger. Bis zum nächsten Morgen, dann waren die Probleme wieder da und er war wieder da, um sich aus-zu-sprechen.
Ich hab nichts  getan. Ich war nur da. Nicht mehr-aber auch nicht weniger.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8635
weiterlesen...