SWR2 Wort zum Tag

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Ohne Versöhnung kann niemand leben. Nach einem Streit, einem Konflikt tut es richtig gut, wenn sich Menschen aussöhnen, sich wieder in die Augen sehen können. Wie Versöhnung aussehen kann, dass habe ich bei Ruta Wermuth erfahren, einer polnischen Jüdin, eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen des Holocaust. 82 Jahre ist sie alt, aber die kleine Frau strahlt immer noch eine unglaubliche Energie aus. Dabei reicht das, was sie erlebt hat, für mehrere Leben aus. Davon erzählt Ruta Wermuth vor allem Schülerinnen und Schülern. Und ihr Schicksal bewegt auch die dritte Generation, bewegt auch die sonst so coolen Schülerinnen und Schüler.
Ruta Wermuth kommt aus der kleinen Stadt Kolomea in Ostpolen. Ihre Eltern sind angesehen, ihre einzige Tochter hat eine glückliche Kindheit. Dann kommt der Krieg, und mit ihm erst die Russen, dann die Deutschen. Kurze Zeit später müssen die Wermuths mit allen Juden in ein Ghetto umsiedeln. Und dann soll ihr Leben im Vernichtungslager Belzec enden. Ein gnadenlos effizientes Lager: Die Zahl der Mordopfer in Belzec wird auf etwa 600.000 Menschen geschätzt - fast alle Juden. Mit Zügen werden die Menschen hierher gebracht. Und auch Ruta steckt in einem solchen Todeszug. Dass sie überlebt, verdankt sie ihren Eltern, die können sie aus dem fahrenden Zug werfen. Was folgt, ist eine Odyssee durch Polen mitten im Zweiten Weltkrieg. Mit einer erfundenen Biographie ergattert die 13-jährige eine falsche Identität und überlebt als Zwangsarbeiterin im Deutschen Reich.
Gerade heute, in einer Zeit, in der Europa im Frieden lebt, klingt die Lebensgeschichte der Ruta Wermuth unglaublich. Aber die Schülerinnen und Schüler und ich spüren: Da spricht eine Frau, die das alles wirklich erlebt hat. Ihre Geschichte kommt den Schülern auch deshalb so nahe, weil Ruta im selben Alter wie ihre Zuhörer war, als sie als das erlebt hat. Unwillkürlich fragt sich wohl jeder: Wie wäre ich mit solchen Erlebnissen umgegangen?
Wie lässt sich ein solches Leben bewältigen? Muss da nicht der Hass siegen? Ja, sagt Ruta Wermuth im Gespräch, sie hat einen unglaublichen Hass auf die Deutschen gehabt. Jahrelang, jahrzehntelang. Nach und nach aber hat sich Wermuth verändert. Sie hat viel gelesen und gesprochen, hat Deutsche kennen gelernt, die keine Nazis waren - und hat verstanden, dass sie ihre Geschichte erzählen muss. Und ich begreife an diesem Vormittag in der Schule, was es heißt, wenn Menschen sich versöhnen. Die Begegnung mit Ruta Wermuth macht mir deutlich, was Versöhnung heißen kann. Dass Versöhnung oft lange dauert, und dass sie nichts verschweigt. Aber auch, dass Versöhnung Menschen verändert. So wie die Schülerinnen und Schüler verändert werden, die der kleinen, alten Frau zuhören, die da in ihrer Klasse sitzt.

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