Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Armut ist beschämend. Deshalb verstecken arme Menschen häufig ihre Armut. Zum Beispiel in erfundenen Geschichten. Eine Frau bat mich um 20 € für den dringend benötigten Schulranzen ihres Kindes. Mein Angebot,  im nächsten Geschäft gemeinsam den Ranzen zu kaufen, nahm sie aber nicht an. Vermutlich brauchte sie keinen Schulranzen, sondern Bargeld. Ein arbeitsloser Ingenieur bot mir ein neues, sensationelles Produktionsverfahren an. Ich sollte mich gleich mit mehreren tausend Euros in bar daran beteiligen. Am meisten verunsicherte mich ein Mann, der Geld für eine Krankenhausbehandlung wollte und mitten in meinem Büro einen Herzanfall erlitt. Erst später habe ich erfahren, dass der Anfall nur gespielt war.
Wir können uns über solche Geschichten wundern, ärgern oder erschrecken, aber sie zeigen alle das Selbe: Niemand möchte seine Armut eingestehen . Lieber packt er seine Not in eine Geschichte, die mehr oder minder seine Würde schont.  Deshalb funktionieren viele gutgemeinte Hilfen auch nicht. Denn sie setzen voraus, dass Arme eingestehen: ich bin arm. Und sich damit bloßstellen. Das beginnt mit dem Zuschuss für die Klassenfahrt, der doch scheinbar ganz offen beim Förderverein der Schule beantragt werden kann. Und das reicht bis zu alten Menschen, die sich vor dem Antrag beim Sozialamt schämen. Und dass Bedürftige sich in manchen Tafelläden mit einer offen getragenen Plakette ausweisen  müssen - das ist eher abschreckend als hilfreich.
Es ist wichtig, durch gutgemeinte Hilfe die Armen nicht bloß zustellen. Suppenküchen sind vielleicht unverzichtbar. Aber noch besser sind preiswerte Mittagstische, die für alle erschwinglich sind und bei denen Hartz-IV-Empfänger, Studenten und Angestellte in der Mittagspause unerkannt nebeneinander sitzen können. 
Gerade die christlichen Gemeinden sollen Orte sein, an denen es nicht auf Armut oder Wohlstand ankommt. „Unter Euch soll es keine Armen geben", sagt die Bibel. Hier soll niemand eine Geschichte erzählen müssen, hinter der er sich versteckt. Offene Kirchen und Gemeinderäume,  ohne Auslese, mit Angeboten und tatkräftiger Gastfreundschaft für alle - das kann hilfreicher sein als ausgefeilte Hilfen, die aus Scham nicht in Anspruch genommen werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8564
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